Eingrooven

Am Sonntag fuhr ich nach Münster und blieb bis Dienstag. Es gab soviel zu regeln wegen der Heimunterbringung meiner Mutter. Aber immerhin konnte ich sie besuchen, nachdem ich am Montag in der Einrichtung einen Corona-Schnelltest gemacht hatte und ihr das gewünschte Leberwurstbrötchen vom Schlachter besorgt hatte. Ansonsten habe ich in der Wohnung meiner Mutter gelebt, Wäsche gemacht, gebügelt, Post bearbeitet, Telefonate geführt, Überweisungen zur Sparkasse gebracht usw. Ich hatte jedenfalls keine Langeweile. Abends sah ich TV. Das hätte ich vielleicht besser nicht tun sollen: in der ersten Nacht schlief ich schlecht und wenig. Dafür dann aber in der zweiten Nacht gut. Nicht nur meine Mutter muss mit der neuen Situation umgehen lernen, auch ich bin noch dabei mich einzugrooven.

Hier in meinem kleinen Dorf sitze ich ja früh morgens immer mit meinem Milchkaffee im Holzschuppen und begrüße den Tag und die Landschaft. Das machte ich in Münster auch. Weil es so ungemütlich und kalt war, saß ich morgens einfach im dunklen Wohnzimmer und sah nach draußen. Durch das hohe Fenster der hässlichen Kirche aus den 70er Jahren leuchteten nacheinander in unendlicher Folge die Spektralfarben. Zwischen den Betonbauten dieser Stadtrandgegend lugte ein Stück Wintermorgenhimmel durch, Straßenlaternen, vorbeifahrende Busse. All die künstlichen Lichter, die versiegelten Straßen und Wege, die sparsame freie Natur – ich dachte daran, wie treffend ich das Wort Zuvielisation finde. Diese Stadt, in der ich so lange gern gelebt habe, ist nicht mehr mein Ort.

Jetzt bin ich wieder zu Hause und fühle mich jeden Tag besser, trotz des durchgehend grauen und feuchten Wetters. Heute Morgen brachte ich mein Auto zur Inspektion und ging dann durch den Regen zurück, watete mit meinen Gummistiefeln durch die vielen Pfützen, freute mich über das reichliche Wasser, das in den letzten Wochen vom Himmel gefallen ist und in den Senken steht. Ich putzte und saugte Staub, hörte eine CD, die ich mal von einer Godenschwester geschenkt bekommen hatte und sang lauthals die Lieder mit und je mehr ich sang und mich dazu bewegte, desto besser fühlte ich mich in meinem Körper. Ich dachte an etwas, was ich vor einigen Wochen in einem Video gehört hatte: „Wir alle sind traumatisierte Kinder in den Körpern von Erwachsenen.“ Wie wahr! Uns allen sitzen die Traumen unserer Ahn*innen in den Knochen. Trauma häuft sich auf Trauma. Und traumatisierte Leute fügen unweigerlich ihren Kindern neues Trauma zu. Und immer dabei ist die Angst. Die Angst regiert unser Leben, mit Angst manipulieren die Mächtigen das Volk, Angst macht eng, lässt keine neuen Gedanken mehr zu. Angst ist ein überlebensnotwendiges Gefühl oder vielleicht eher eine Empfindung, also etwas sehr Körperliches. Aber chronische Angst lähmt. Was hilft, ist Bewegung, Stimme und Atem. Diese drei Dinge sind eigentlich fast immer verfügbar und einfach elementare Heilmittel.

Für die Kräuterkurse 2021 habe ich noch keinen Plan. Keiner weiß, wie es mit den Restriktionen weitergeht. Ich werde spontan entscheiden. Wer und welche Interesse hat, kann mir eine Mail schicken. Ich melde mich dann, sobald es etwas Konkretes gibt. Ansonsten freue ich mich auf Zeit und Muße, um endlich noch tiefer in die Welt der wilden Planzen einzutauchen.

Der Lockdown stört mich wenig. Ich fahre einmal in der Woche in die Stadt und gebe wenig Geld aus. Der Französischunterricht fängt ab nächste Woche per Zoom an, besser jedenfalls als kein Unterricht. Ich mache Yoga im Wohnzimmer (natürlich ist es in der Gruppe schöner) und fühle mich danach gelassener und mehr in meinem Körper. Ich bedanke mich beim Regen und bei den Bäumen, daß sie da sind, ich sehe den Vögeln an der Futterstelle zu und lausche den Gänsen, Kranichen, Kolkraben und Singschwänen und finde, daß ich ein glücklicher Mensch bin. Und ich habe mit vielen sehr freundlichen Menschen zu tun, das fällt mir immer wieder , auf, ob in der Bahn, am Telefon, in den wenigen Geschäften, die noch geöffnet haben. Sogar der junge Mann von der Krankenversicherung meiner Mutter, mit dem ich heute telefonierte, hat sich so nett und ausgiebig mit mir unterhalten, daß ich ihm am Schluss aus ganzem Herzen dafür dankte. Ich weiß nicht, ob das an Corona liegt. Wie auch immer und bei all dem Chaos, den Ungereimtheiten der Herrschenden, ich glaube immer noch, daß die Erde uns das Virus geschickt hat und daß sich etwas verwandeln will.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert