Ruhestand

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Seit einer Woche bin ich Rentnerin. Na ja, eigentlich erst ab 1. 7., aber ich habe jetzt Resturlaub. Am letzten Mittwoch war mein letzter Arbeitstag. Da unser Oberarzt in der Frühbesprechung seinen ärztlichen Kolleg*innen von meinem Abschied erzählt hatte, kamen den ganzen Vormittag Menschen auf die Station, die mich drückten und mir sagten, wie schön sie es mit mir gefunden hätten. Ich war ganz überwältigt und hatte mit sowas nicht gerechnet. Mein Kollege holte mich aus der Visite, weil der neue Pflegemanager und die fast ebenso neue Geschäftsführerin sowie eine Frau aus der Personalverwaltung mit einem großen Blumenstrauß gekommen waren, um mich würdig zu verabschieden. Ich sagte ihnen dann auch gleich, daß ich in den wenigen Monaten ihrer Anwesenheit genau wie meine Kolleg*innen mitbekommen habe, daß ein neuer Wind in der Klinik weht: „Ich habe das erste Mal seit langer Zeit den Eindruck, Sie interessieren sich für das Pflegepersonal.“ Das ist tatsächlich so: man bekommt endlich Antworten auf Mails, es gibt Resonanz auf Überlastungsanzeigen und Verbesserungsvorschläge. Wir werden offensichtlich nicht mehr als Kostenfaktor angesehen wie unter der alten Geschäftsführung.

Als ich mittags nach Hause fuhr, war ich ganz aufgeladen von den vielen Umarmungen. Jetzt habe ich plötzlich viel Zeit. Ich ertappe mich unzählige Male am Tag dabei, wie ich innere To-do-Listen abarbeiten will. Dann atme ich tief durch und sage mir selbst: ich muss nicht hetzen, ich kann in Ruhe alles machen, was ich will. Ich arbeite, seit ich 19 Jahre bin, also seit 46 Jahren, eigentlich 43 Jahren, wenn man zwei Sabbatjahre und ein Jahr nach der Geburt meines Sohnes abzieht. In diesen Jahren sind chronischer Mangel an Zeit und oft auch an Schlaf meine Begleiter geworden. Ich bin gespannt, wie mein Leben ohne sie wird.

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Am Wochenende war ich in Flensburg. Dort wurde ich YouTube-mäßig auf den neusten Stand gebracht: Zerstörung der CDU von Rezo. Einen großen Teil meiner Infos über dieses Video habe ich aus dem Radio, genug um damit einverstanden zu sein. Aber es ist doch noch mal was anderes, das im Film und in fast voller Länge zu sehen, z. B. die Geschichte von den amerikanischen Drohnen, die mit Billigung der Bundesregierung von Ramstein aus gesteuert werden, um dann irgendwelche unschuldigen Menschen zu töten. Was mir gut gefiel, war auch die Emotionalität, die Frische und Direktheit von Rezo. Ja, ich finde es toll, was die jungen Menschen machen. Sie sagen gerade heraus, wie es ist. Währenddessen versuchen die Politiker-Charaktermasken mit Aussagen zu punkten, daß man evtl. den Ausstieg aus der Kohle bis Mitte der 30er Jahre schaffen könnte. Hey, es gibt Wissenschaftler, die geben uns bis zu unserer endgültigen Auslöschung noch sieben Jahre – das wäre dann 2026!

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Wie auch immer: in der Zeit, die mir bleibt, will ich das Leben mit jeder Zelle meines Körpers lieben. Und im Moment fällt das besonders leicht, wenn ich im Sonnenschein sitze und die wilde Wiese bewundere, den Insekten zusehe, den Vögeln und den Grillen zuhöre, täglich Erdbeeren ernten und essen kann und den süßen Duft von Honig und Wachs, der aus den Fluglöchern der Bienenstöcke strömt oder den aromatisch-beruhigenden Duft der Fichte in der Nase habe.

Zuckerfest

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Mittwoch war ich zum Zuckerfest, dem Abschluss des Ramadan, bei einer jungen afghanischen Frau eingeladen. Wir saßen in fröhlicher Runde am mit Leckereien beladenen Tisch und aßen, redeten und lachten. Die Kinder spielten und bezogen uns gelegentlich mit ein. Es hat sich nicht Besonderes ereignet, aber ich habe mich sehr wohl unter all den Frauen gefühlt. Am nächsten Morgen hatte ich beim Aufwachen den Satz aus Starhawks Klassiker Der Hexenkult als Urreligion der Großen Mutter im Kopf: „Alle Akte der Liebe und Freude sind meine Rituale“, also die Rituale der Göttin, der Großen Mutter. Das knüpft an meinen letzten Post an, in dem ich vom ekstatischen Leben schrieb.

Mein Sohn erzählte mir heute von seinem Georgienbesuch. Am meisten fiel ihm die Abwesenheit von Maschinengeräuschen und die vielfältigen Vogelstimmen, die Mengen von Insekten, die Fülle an blühenden Pflanzen auf. Die Kühe seien überall frei rumgelaufen, hätten auf den Straßen gelegen und die Autos seien drum herum gefahren. Er meinte, es sei dort wie es hier vor sechzig Jahren war. Nicht daß er weiß, wie es in Deutschland vor sechzig Jahren war. Aber ich weiß es, weil ich zu der Zeit Kind war. Wir haben mitten in Hannover auf der Straße gespielt. Es fuhr kaum ein Auto. In den Sommerferien waren wir bei Oma und Opa im Solling und haben im Wald und auf den Feldern gespielt. Die Lerchen sangen und der Roggen wuchs so hoch, daß er meinen Opa überragte. In meinem Garten wächst dieses Jahr Waldstaudenroggen, der genau so hoch ist. Ich habe ihn gesät, damit ich Roggenstroh für die Bienen habe.

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Ich gewöhne mich allmählich an mein neues Smartphone und denke darüber nach, welche Funktionen ich nutzen will. Ich sehe bei Freundinnen und meinen Kolleg*innen, was sie damit machen. Da gibt es Apps, mit denen eine die Sternbilder bestimmen kann, Wetterapps, GPS usw. Ich rede jetzt mal gar nicht davon, daß wir mit unseren Daten schön ausspioniert werden können. Das werden wir sowieso, auch wenn wir uns bemühen, das zu vermeiden. Eine andere Frage bewegt mich: was geschieht mit den Sinnen, die unter dem Begriff Intuition zusammengefasst werden, wenn wir gewohnheitsmäßig auf die Möglichkeiten der Smartphones und ähnlicher Geräte zurückgreifen? Viele Menschen können z. B. keine Landkarten und Stadtpläne mehr lesen. Wenn ich mich daran erinnere, wie ich nach und nach in sternklaren Nächten die Sterne ansah und bestimmen lernte und was ich dabei alles erlebte – das kann mir keine App geben. Ich glaube, daß unsere eh schon zurückentwickelten Sinne mit diesen technischen Spielzeugen noch weiter verkümmern werden. Das ständige Informiertwerden über diese Kommunikationskanäle ist mir auch viel zu viel. Ich muss nicht jeden Pup, den eine von sich gegeben hat, mitgeteilt bekommen. Oft ist es mir schon zu viel, meine Mails zu lesen bzw. zu entscheiden, was ich lese und was ich lösche. Ich brauche Ruhe, um ins Innere und ins Äußere zu lauschen. Und die wahre Welt ist viel geheimnisvoller und schöner als die Flut der Fotos und Filmchen. Das habe ich heute Nacht mal wieder erlebt: ich wachte um 3 Uhr auf und Lenchen war nicht im Haus. Ich machte mir Sorgen, weil ich sie den halben Tag nicht gesehen hatte und konnte nicht wieder einschlafen. Also zog ich mich an und ging in den Garten. Da saß ich und sah in den pastellfarbenen Nordhimmel, aus dem mich ein einsamer Stern anleuchtete. Wie schön und still alles war.

Ich glaube, daß wir vor sehr langer Zeit, als Menschen sich noch als Teil der Natur empfunden haben, uns mit Sinnen verständigen konnten, von denen wir heute nichts mehr wissen. Daß wir ohne Kommunikationsmittel wussten, wenn Besuch kam. Daß wir das Wetter vorhersagen konnten konnte ohne Wetterbericht. Daß wir wussten, welches Heilmittel, welche Pflanze wir brauchten, wenn eine*r krank war und wo wir sie finden. Daß eine lange Umarmung  uns tausendmal mehr Information übereinander geben konnte als gesprochene und geschriebene Worte. Tiere können das noch. Wenn meine Katze sich nachts an meinen Körper kuschelt, habe ich das Gefühl, sie liest in mir.

Ich bin keine Technikfeindin. Ich finde das Internet toll und nutze es gern. Gleichzeitig bin ich mir der Problematik bewusst: die Rohstoffe, die Herstellungsbedingungen, der Stromverbrauch und damit der CO2-Ausstoß, die Nervereien mit Updates, Datensicherungen, Abstürzen usw.

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Die reale Welt ist doch die schönste!

 

 

 

Das Schöne und das Schreckliche

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Gestern Abend fuhren L. und ich nach Stodthagen, um an der Froschkonzert-Führung der Stiftung Naturschutz teilzunehmen. In der einsetzenden Dämmerung trafen sich ca. 90 Menschen auf dem Parkplatz am Waldrand. Mit so vielen hatte ich nicht gerechnet, aber es ist schön, daß immer mehr sich für die gefährdeten Wesen interessieren. Mir ging es um die Unken. Die habe ich das erste Mal vor Jahren in Meck-Pomm gehört und seitdem bin ich auf der Suche nach ihnen.

Die Stiftung Naturschutz hat in Stodthagen eine große ehemalige Ackerfläche aufgekauft und renaturiert, d. h. sie hat die notwendigen Bedingungen geschaffen, damit sich in den Senken in der Landschaft wieder Wasser sammeln kann. Und in den entstandenen Tümpeln hat man Rotbauchunken und Frösche ausgesetzt. Rotbauchunken können nicht in einer Landschaft überleben, die intensiv landwirtschaftlich genutzt und mit Dünger behandelt wird.  Außerdem brauchen sie Feuchtflächen.

Man führte uns auf die große Wiese, auf der auch Rinder grasen (wir sahen aber keine). Und da hörte ich sie schon – die Unken – mit ihren melancholischen Rufen, die so ans Herz gehen. Unsere Führerin fing einige, die wir uns in einem schmalen durchsichtigen mit Wasser gefüllten Gefäß ansehen konnten. Sie haben orangerote Flecken am Bauch. Sicher war es schön für die anwesenden Kinder, die Tiere so nah zu sehen. Mir taten sie leid, wie sie in dem schmalen Gefäß strampelten. Es wurde sehr viel geredet und erklärt, deshalb ging ich zum nächsten Tümpel, wohin die menschlichen Stimmen nur gedämpft drangen und ich ganz dem Gesang der Unkenmännchen lauschen konnte. Die Wiese war so, wie ich es aus meiner Kindheit kenne: ab und zu stand ein Weißdornbusch da, die Vegetation war vielfältig und es gab viel Jakobskreuzkraut, an dem sich keiner zu stören schien. Die Kühe fressen es nicht. Ob es hier noch Lerchen gibt? Es ist gut, daß es diese Menschen von der Stiftung Naturschutz gibt. Sie machen eine wichtige Arbeit.

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Heute machte ich einen Gang, um meinen nächsten Kräuterkurs vorzubereiten. An den Teichen traf ich auf einen Schwan, der sich beim Näherkommen als Singschwan zu erkennen gab. Im Schilf saß seine Gefährtin auf ihrem Nest. Also sind nach dem Winter einige nicht zurück nach Skandinavien gezogen. Vier Graureiher stießen laute Warnrufe aus. Ein Seeadler glitt mit seinen riesigen ausgebreiteten Flügeln knapp über das Wasser, drehte eine Kurve und flog dann in eine der alten Eichen. Es ist so schön hier, und ich entdecke immer wieder Neues. Im Belliner Moor versank ich mit einem Fuß im schwarzen Morast. Irgendwelche Tiere fühlten sich von mir gestört: ich hörte sie im Gebüsch laut schnauben und atmen, sie zeigten sich aber nicht und liefen auch nicht weg. Vielleicht waren es Wildschweine.

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Ilan hat uns von einer Prognose erzählt, die Wissenschaftler bei irgendeiner Konferenz in England geäußert haben: einige sagen voraus, daß in 7 Jahren kein Leben auf der Erde mehr möglich sein werde, andere geben uns noch 20 Jahre. Sie alle sind sich einig, daß die Menschheit aufwachen muss – und zwar jetzt. Ich denke, diese Prognosen haben mit den sogenannten Kipppunkten zu tun. Einer davon ist z. B. erreicht, wenn die Permafrostböden auftauen und dabei solch große Mengen CO2 in die Atmosphäre geben, daß ein Leben, wie wir es kennen, nicht mehr möglich ist. Dann stirbt innerhalb kürzester Zeit alles, was auf Atmung angewiesen ist.

Letztendlich weiß niemand, was passieren wird, und Wissenschaftler haben sich schon oft vertan. Dennoch wissen und ahnen wohl die meisten, daß es so nicht weitergehen kann. Frau Merkel hat sich in ihrer Rede in Harvard für den Klimaschutz stark gemacht. Es klang so, als sei sie schon immer die große Klimaschützerin gewesen. Offensichtlich hat das schlechte Abschneiden der CDU bei der Europawahl einigen Politikern die Stimmung verhagelt. Und Friday for Future und andere neue Bewegungen zeigen Wirkung. Gut so! In gewisser Weise erinnert mich das an den Beginn der Studentenbewegung 1967.

Ich möchte gern mit Menschen über das Thema der drohenden Auslöschung allen Lebens sprechen. Warum die menschliche Gattung sich wie der Krebs der Erde verhält. Sie war nicht immer so destruktiv, sie ist es erst seit ein paar Tausend Jahren. Aber wenn ich damit anfange, rede ich ins Leere. Es gibt keine Resonanz, das Thema wird gewechselt. In gewisser Weise verstehe ich das: es macht Angst, es ist schmerzhaft, es ist unerträglich. In der Astrologie sagt man, daß Skorpiongeborene diejenigen sind, die dahin sehen, wo andere wegsehen. Das scheint zu stimmen. Ich bin einfach nicht in der Lage wegzusehen, habe es noch nie gekonnt. Ich halte es auch nicht für wünschenswert, weil Wegsehen noch nie was besser gemacht hat.

Ilan hat den schönen Begriff „spirituelles Bypassing“ in diesem Zusammenhang erwähnt. Das ist das, was wir machen, wenn wir Sätze sagen wie: „Es hat alles einen tieferen Sinn.“ Auch ich habe schon solche Sätze gesagt. Sie sollen den Schmerz niederhalten. Aber der Schmerz muss gefühlt werden, in aller Deutlichkeit, sonst wird sich gar nichts verändern. Ebenso die Wut, die Verzweiflung, das Entsetzen. Wir leben in einer Kultur, die heftige Gefühle unterm Deckel hält, gern mit Medikamenten, Drogen und Alkohol. Was kann ich tun? Egal wieviel Zeit wir noch haben: ich werde alles tun, um jetzt so gut und ekstatisch zu leben, wie es mir möglich ist. Und wenn es soweit ist, will ich auch ekstatisch sterben. Ich liebe einfach das Lebendige so sehr!