Morgens, wenn ich mit meinem Kaffee im Holzschuppen sitze und in die Landschaft schaue, sehe ich die hohen Gräser, die sich im Wind wiegen. Manchmal wehen Wolken von Pollenstaub über sie hinweg. Ich staune über die filigranen Formen ihrer Blüten. Dieser Anblick ist mir vergönnt, weil ich große Teile der wilden Wiese nur ein- bis zweimal im Jahr mit der Sense mähe. Ich gehe weit in der Zeit zurück, in unsere Sommer in Tirol. Auf meinen Streifzügen durch die Wiesen entdeckte ich Zittergras mit seinen bezaubernd schönen Blütenköpfen. Wer denkt sich diese Formen aus? Einmal fand ich einen großen Türkenbund. Meine Mutter schenkte mir ein Büchlein über die Pflanzen der Alpen und die entdeckte ich dann alle, wenn wir die umliegenden Berge bestiegen: Enzian, Alpenglöckchen, Edelweiß, Knabenkraut und viele andere. Das war mein erstes Pflanzenbestimmungsbuch. Ich freute mich auch über die kleinen grauen Kühe, deren Glockengeläut man von Weitem hören konnte.
In den schwierigsten Zeiten meines Lebens hat mir die Natur geholfen. Ich erinnere mich daran, daß ich in einer der vielen Krisenzeiten meiner ersten Ehe nach dem Nachtdienst mit dem Fahrrad nach Hause fuhr – es muss im Frühjahr oder Sommer gewesen sein – und plötzlich ganz bewusst den Gesang der Vögel wahrnahm. Und damit kam eine Gewissheit in mich, daß unter dem ganzen Alltagsstress und dem Dauerstreit mit meinem damaligen Mann eine andere Wirklichkeit lag, eine Schönheit, eine Liebe, die alles durchdringt und alles miteinander verbindet. Da konnte ich innerlich einen Schritt hinter meinen Ärger treten und wieder fühlen, was mich mit N. verband. Das hielt nie lange vor, aber in diesen Momenten fühlte ich mich vollständig.
Ende der 70er Jahre kamen die ersten Bücher von Carlos Castaneda zu mir: Das Leben des Don Juan und Die Reise nach Ixtlan. Sie haben mich damals in der Tiefe angesprochen und mir eine ganz neue Welt eröffnet. Oder vielleicht war sie gar nicht so neu, vielleicht rührte sie nur an etwas, was ich als Kind gespürt und über das ich nie mit einer Menschenseele gesprochen hatte: daß sich hinter der äußeren Welt eine andere verbirgt, zu der ich so gern Zugang haben wollte. N., der mich mit diesen Büchern bekannt gemacht hatte, und ich sprachen oft darüber. Wir waren beide gleichermaßen fasziniert. Den Tod als Begleiter erkennen, Leben im Bewusstsein, daß der Tod immer hinter uns steht, das war ein Kerngedanke aus diesen Büchern, der mich seitdem nie wieder verlassen hat. Auch der Tod ist Natur.
Kürzlich sprachen ein Freund und ich über Leben. Als ich einen Bergkristall in der Hand hielt und sagte, er sei lebendig, widersprach er mir und als ich beharrte, sagte er: „Aber nur ein bisschen.“ Solche Abstufungen kann ich nicht machen. Nur weil ich mit meinen Sinnen nicht in der Lage bin, die Lebensäußerungen eines Kristalls oder Steins wahrzunehmen, kann ich ihm nicht die Lebendigkeit absprechen. Und ist nicht das Silizium, daß den Bergkristall formt, auch in meinem Körper enthalten? Habe ich nicht alle Elemente in mir, Wasser, Erde, Luft und Feuer? Ute Schiran bezeichnete uns in unserer derzeitigen Lebensform gern als Schwammerl (ihre Muttersprache war das Bayrische). Das gefällt mir: die Pilze sind unterirdisch untereinander und mit anderen Wesenheiten verbunden. Alles ist miteinander verbunden.
Wenn ein Arzt sagt, eine Strahlenbehandlung wirke punktgenau auf den Tumor, kann ich mich nur wundern. Wie kann er so etwas behaupten? Nichts wirkt punktgenau, weil alles miteinander in Kontakt steht und sich mitteilt. Wenn eine Stelle im Gewebe des Lebens berührt wird, bewegt sich das ganze Gewebe. Das habe ich kürzlich selbst erlebt: Wegen anhaltender Schmerzen in der rechten Leistenbeuge, die von einer Fehlstellung in meiner unteren Wirbelsäule kommt, hatte ich eine Behandlung bei einer Schmerztherapeutin. Während sie an meiner Beckenregion arbeitete, spürte ich es bis in die Zehen meines rechten Fußes. Ich sagte es ihr und sie antwortete: „Ja, das sind die Faszien.“ Kürzlich habe ich von einem alternativ arbeitenden Arzt erfahren, daß man heute davon ausgeht, daß die Faszien, die unseren ganzen Körper durchziehen, Informationen weiterleiten.
Dazu fallen mir die Bienen ein: sie verständigen sich auf verschiedenen Wegen. Allgemein bekannt ist der Schwänzeltanz, mit dem sie sich Nektar- und Pollenquellen sowie mögliche neue Behausungen mitteilen. Sie kommunizieren ebenso wie andere Tiere, inklusive wir Menschen, auch über Pheromone. Darüber hinaus verständigen sie sich über ihre Waben, indem sie sie in Schwingungen versetzen. Das funktioniert aber nur bei Naturwabenbau ohne die Rähmchen, mit denen die meisten Imker arbeiten, um den Honig abschleudern zu können. Ich stelle mir vor, wie in meinem Körper die Faszien ebenso wie die Waben der Bienen schwingen und sich auf diese Weise allen Zellen mitteilen.
Die Natur ist nichts, was sich außerhalb von mir befindet. Ich bin Natur. Ich bin Landschaft. Ich bin nie allein. Paradoxerweise kann ich das am besten wahrnehmen, wenn ich allein, das heißt ohne Menschen bin. Und diese Zeiten des Ohne-Menschen-Seins brauche ich immer wieder, um mich ganz zu fühlen.