Vor ein paar Tagen wollte ich in den Wald. In einiger Entfernung sah ich ein seltsam breites Tier zügig auf mich zutraben. Dann erkannte ich an den parallelen schwarzen Längsstreifen, daß es ein Dachs war. Ich blieb stehen. Der Dachs lief unbeirrt in meine Richtung. Kurz vor mir stutzte er. Ich konnte deutlich seine glänzenden Augen in den schwarzen Fellstreifen und die spitze Schnauze erkennen. Dann setzte er seinen Weg fort, an mir vorbei, so nah, daß ich ihn mit ausgestrecktem Fuß hätte berühren können. Ich sah ihm nach und erkannte eine Wunde an seinem Hinterteil. Ich wünsche ihm sehr, daß die gut abheilt. Vielleicht hat der Jäger, dessen Schüsse ich vormittags gehört hatte, ihn aufgestöbert; der Hochsitz steht am Hügel, wo sich auch ein Dachs- oder Fuchsbau befindet.
Ich habe kürzlich wieder das Buch Die Höhlen der großen Jäger von Hans Baumann gelesen. Ich bekam es von meinen Eltern geschenkt, als ich ungefähr zehn war und es hat mich damals unglaublich fasziniert. 1989 bin ich mit meiner Tochter ins Vézèretal nach Südfrankreich gefahren und habe dort auch Lascaux II besucht. Das ist eine Nachbildung der Höhle, deren Entdeckung in dem Buch beschrieben wird. Sie wurde 1940 von vier Jungen entdeckt, die ihren verschwundenen Hund suchten. Vor ca. 15 000 Jahren während der letzten Eiszeit haben in der Region Cro Magnon-Menschen gelebt. Sie waren Jäger und großartige Maler, wovon unzählige Tierbilder aus dieser und anderen Höhlen in Frankreich und Spanien zeugen.
Diese Abbildungen sind in ihrer Lebensechtheit völlig erstaunlich. Mit wenigen Strichen, oft nur Umrisslinien, sind die Tiere so dargestellt, daß sie lebendig zu sein scheinen. Man muss dabei bedenken, daß sie unter schwierigsten Bedingungen auf die Felswände gemalt worden sind: nur im Licht von Fackeln, an schwer zugänglichen Orten, in niedrigen Gängen oder sehr hoch oben. Die sogenannte Krypta, in der sich der rätselhafte Mann mit dem Vogelkopf und dem verletzen Bison befindet, konnte nur mit Hilfe eines Seils oder einer anderen Kletterhilfe erreicht werden. Die Maler, vielleicht auch Malerinnen, hatten keine Modelle bei sich. Sie konnten die Tiere nur so malen, wie sie vor ihrem geistigen Auge erschienen, aus der Erinnerung. Sie mussten diese Tiere sehr genau kennen, ihnen sehr nahe gekommen sein, ihre Lebensgewohnheiten, ihre Art sich zu bewegen kennen. Ihre Wahrnehmung muss sich fundamental von der unseren unterschieden haben.
Beim Betrachten dieser Bilder wird mir wieder mal klar, wieviele unserer Sinne verkümmert sind. Mit dem Lesen und Schreiben wird unser Gedächtnis schlechter, das ist bekannt. Und im Laufe der Jahrtausende haben wir immer mehr Sinne ausgelagert. Wer kann sich noch ohne Karte und Kompass in der Natur orientieren? Wer weiß noch, woran man erkennt, wo Norden ist? Wer erkennt noch Vögel und andere Tiere an ihren Lauten? Wer kann die Spuren von Tieren in der Natur erkennen? Wer kommt noch ohne Navi oder Handy klar? Uns wurde und wird soviel genommen, daß wir ohne die vielen alltäglichen Hilfsmittel orientierunslos sind. Und natürlich haben wir uns auch soviel nehmen lassen, weil damit unser Leben vermeintlich leichter wird. Ich bin sicher, das Gegenteil ist der Fall. Letztlich sind wir behinderte Wesen.
Tyson Yunkaporta erwähnt in seinem großartigen Buch Right Story – Wrong Story, über das ich schon berichtet habe, sein Gespräch mit der Erde und beweist dabei einen ziemlich bissigen Humor, der mir gut gefällt. Wir kriegen alle unser Fett weg. Die Erde sagt ihm sinngemäß, daß wir immer nach oben wollen, uns weiter entwickeln, uns optimieren wollen, alles soll immer „up up up“ gehen. Und damit zerstören wir alles, was lebt, auch uns selbst. Dabei sollte die Richtung „down down down“ gehen, nach unten zur Erde, zu unserer Mutter, zu dem, woher alles Leben kommt. Denn die Erde gibt uns alles, was wir brauchen. Ja, so ist es!
Auch in der spirituellen Szene sehe ich das oft, dieses Streben nach oben, nach der geistigen Welt, nach der Erleuchtung (was auch immer das sein soll). Ich habe gerade in den letzten Jahren Menschen kennengelernt, die eine tiefe Verachtung für das ganz normale menschliche Leben haben und unentwegt in irgendwelchen geistigen Räumen auf der Suche sind – nach was? Nach Verbindung mit dem Leben, behaupte ich mal. Und das Leben ist Körper, ist Materie, ist Bewegung, ist Wahrnehmen mit allen Sinnen, ist Riechen, Schmecken, Hören, Spüren, Genuss am Dasein. Und ja, es ist auch die Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten, mit der Hindernisbereiterin, mit den Steinen, die das Leben einer manchmal in den Weg legt.