Die grünen Helferinnen aus der Fremde und die 13. Fee

Indisches Springkraut (Impatiens glandulifera)
Beifuß-Ambrosie (Ambrosia artemisiifolia)
Vor einigen Jahren entdeckte ich in meinem Garten eine mir unbekannte kleine Pflanze mit hübschen gefiederten Blättern. Also beobachtete ich sie. Im nächsten Frühjahr kam sie nicht wieder, und ich vergaß sie.
Eines Tages sah ich sie auf einem Foto in der Tageszeitung wieder. Sie wurde Beifuß-Ambrosie genannt und war wahrscheinlich mit Vogelfutter aus Nordamerika zu uns gekommen. Der Artikel rief dazu auf, jede Ambrosie vor der Blüte auszureißen. Sie sei nämlich mit ihren „aggressiven Pollen“ für Heuschnupfen, allergische Bindehautentzündungen und Asthma verantwortlich.
Im Ausrotten ist unsere Kultur bekanntermaßen ganz groß. Bevor sich eine Besucherin aus der Fremde überhaupt richtig vorstellen kann, wird sie erst mal bekämpft. Das scheint ein Reflex der weißen Zivilisation zu sein.
Ausrottungsaufrufe machen mich neugierig auf das Wesen, das bekämpft werden soll. Ich sammelte also Informationen. So erfuhr ich, daß einige Menschen allergisch auf die Pollen der Beifuß-Ambrosie reagieren können. Das geschieht jedoch jedes Jahr zur Hauptblütezeit auch bei unzähligen einheimischen Pflanzen.
Für die Heilerinnen der First Nations war die Beifuß-Ambrosie eine geschätzte Medizinpflanze: die frischen grünen Blätter galten als entzündungshemmende Wundauflage und konnten Durchfälle lindern.
Die amerikanischen Ureinwohner haben übrigens viele der fremden Pflanzen, die die weißen Siedler mitbrachten, in das reichhaltige Repertoire ihrer Heilpflanzen aufgenommen. Das nenne ich einen respektvollen Umgang mit dem Fremden.
Und was ist mit den Allergien?
Leider ist hier nicht genug Platz, um auf dieses Thema einzugehen. Wollten wir alles ausrotten, worauf unsere durch Impfungen, Antibiotika und Desinfektionsmittel irritierten Immunsysteme allergisch reagieren, stünden wir bald allein da.
Gegen eine weitere ausländische Pflanze ist zum Vernichtungsfeldzug aufgerufen worden: das Indische Springkraut, auch Balsamine genannt, eine bis zu 1 m hohe Pflanze mit schönen, rosafarbenen, orchideenähnlichen Blüten.
Liebhaber dieser auffälligen Pflanze brachen sie vor etwa hundert Jahren aus dem Himalaya mit. Aber erst seit wenigen Jahren breitet sie sich auch außerhalb der Gärten an feuchten Stellen aus und erweist sich als sehr vital. Diese Lebenskraft wirft man ihr vor: sie soll alle anderen Pflanzen verdrängen. Kurzfristig scheint das zu stimmen. Aber erst seit der systematischen Begradigung von Bachläufen und der damit verbundenen Rodung von uferbefestigenden Bäumen wie Eschen, Erlen und Weiden besiedelt das Springkraut die entstandenen Lücken. Darüber freuen sich die Bienen, denn der Pollen der Balsaminen ist ihnen zur wichtigen Nahrung geworden, seit die Landwirtschaft ihnen die Nahrungssuche mit Monokulturen und Pestiziden immer schwerer macht. Vielleicht haben die Bienen ja das Springkraut um Hilfe gebeten.
Die Bachblüte Impatiens kann Menschen mit einer hohen mentalen Spannung, einer weit verbreiteten Störung in unserem Kulturkreis, zu mehr Gelassenheit verhelfen. Und wer gelassen ist, wird sehen, daß im Laufe der Zeit das Indische Springkraut von Brombeeren überwuchert und sich aus dem Schatten der hochwachsenden Bäume zurückziehen wird. Alles reguliert sich, wenn wir es lassen!
Wenn wir es aber bekämpfen, ausladen, verbannen, dann kommt es unerwartet wieder in unser Leben wie die dreizehnte Fee im Märchen von Dornröschen. Die Zahl Dreizehn weist darauf hin, daß sie etwas Unberechenbares repräsentiert, daß sie eine ist, die die alten Gewohnheiten stört und neue Impulse bringt. Die dreizehnte Fee erscheint wieder und versetzt Dornröschen in einen tiefen transformierenden Schlaf.
Deshalb plädiere ich dafür, die grünen Helferinnen aus der Fremde willkommen zu heißen. Ich bin überzeugt, daß sie uns dann erzählen werden, was sie uns geben wollen.
(2010 erstmalig in der Matriaval erschienen)
Efeu – die Pflanze, die im Winter Früchte trägt

Efeu – hedera helix
Die erste Pflanze, die ich mir in unseren Garten wünschte, war Efeu. Nicht, daß ich die Absicht hatte, die Pflanze für die Herstellung von Heilmitteln zu verwenden. Ich wollte sie einfach nur in meiner Nähe haben.
Nach zwei Jahren entdeckte ich die ersten dunkelgrünen, hellnervigen Efeublätter im Schatten der mächtigen Krone des alten Apfelbaumes. Ich konnte beobachten, wie er zum Baum hin wuchs und stetig am Stamm hochkroch. Mit kleinen Haftwurzeln hielt er sich an der rauen Rinde fest.
Efeu hat einige Eigenschaften, die ihn von anderen Pflanzen unterscheiden. Eine ist seine Neigung, die Dunkelheit zu suchen. Er wächst am liebsten auf den Schattenseiten von Baumstämmen, Mauern und Felswänden, um nach oben zu klettern, sich dabei zu verzweigen und nach und nach große Flächen mit seinen drei- bis fünfzipfeligen Blättern zu bedecken. Seine Wuchswege erinnern an Spiralen, das hat ihm den botanischen Nachnamen Helix (spiralig Gewundenes) gebracht. Die Spirale ist eine der Urformen: ich denke an die spiralige Milchstraße und an die DNS-Spirale (Doppel-Helix), die wir im Inneren unserer Zellen finden.
Efeu kann älter als 400 Jahre werden und bildet richtige Stämme. An den Tuffsteinwänden der Kakushöhle in der Eifel habe ich sehr alte Efeupflanzen gesehen, die eine Höhe von 20 Metern erreicht hatten.
Wenn Herbst- und Winterstürme den Bäumen das letzte Laub abgestreift haben, kommen die immergrünen glänzenden Blätter des Efeu schön zur Geltung.
Efeu braucht mindestens acht Jahre, bis er bereit ist zu blühen. Dann wird eine weitere besondere Eigenschaft sichtbar: aus den im Schatten wachsenden Trieben verzweigen sich neue, die von Baumstamm, Wand oder Fels weg ins Licht streben und – das ist die dritte besondere Eigenschaft – ganz anders geformte Blätter haben. Sie sind oval oder länglich zugespitzt. Wir könnten denken, wir hätten es mit einer völlig anderen Pflanze zu tun. An diesen erwachsenen Trieben bilden sich im im Herbst Dolden, die mit dem Nektar ihrer unauffälligen gelb-grünen fünfblättrigen Blüten Bienen und Schmetterlingen letzte süße Nahrung vor dem Winter geben.
In der dunklen Jahreszeit reifen dann langam die kleinen schwarzen Früchte. Sie sind für Menschen giftig, aber ab Februar freuen sich die Vögel über diese Winterspeise und helfen der Pflanze, indem sie die Samen mit ihrem Kot weiterverbreiten.
Unsere Ahnen haben es verstanden, das Wesen einer Pflanze aus ihrer Erscheinungsform zu lesen. Auch uns ist das möglich, wenn wir uns die Zeit nehmen und offen und aufmerksam sind. Die immergrünen Blätter des Efeu werden mit der Unvergänglichkeit des Lebens in Verbindung gebracht. So finden wir noch heute Efeu auf Friedhöfen. Efeus grüne Umarmung und das Überdauern seiner Blätter im Winter hat ihn zum Sinnbild für ewige Treue gemacht. Deshalb schenkte man Liebespaaren früher Efeuranken.
Sein Blühen und Fruchten im Herbst und Winter, wenn anderen Pflanzen schlafen, kann uns Hoffnung und Freude geben. Manche sehen im fünfzipfeligen Blatt sogar ein Pentagramm, das magische Zeichen der alten Erdreligion.
Efeu verbindet Gegesätzliches: er liebt zunächst den Schatten, dann wendet er sich dem Licht zu, während die Blätter seiner Jugendtriebe immer wie Pfeilspitzen zur Erde zeigen. Er hat zwei verschiedene Blattformen. Er ist in der Lage, genug eigene Wärme zu produzieren, so daß er in der kalten Jahreszeit blühen und Früchte bilden kann. Er verbindet Unterwelt mit oberer Welt.
Im alten Griechenland war Efeu die Pflanze der Begeisterung und der inspirierenden Musen, und bevor der matriarchale Dionysos mit Wein in Verbindung gebracht wurde, trug er Efeuranken im Haar.
Als verbündete Pflanze kann Efeu uns helfen, mit der Unterwelt in Kontakt zu treten: in seelischen Übergangszeiten, wenn abgespaltene und verleugnete Seelenteile ins Licht des Bewußtseins treten wollen oder die Angst vor der Unterwelt uns den Atem nimmt.
Efeu kann auch Menschen helfen, die an Bronchitis, Keuchhusten und Asthma leiden. Er löst Krämpfe und zähen Schleim.
Sein hoher Jodgehalt, ungewöhnlich für eine Landpflanze, macht ihn zum Helfer bei Schilddrüsenunterfunktion.
In den festen, glänzenden Blättern können wir seine Beziehung zu glatter Haut und straffem Bindegewebe erkennen. So wird Efeu für Haut- und Cellulite-Salben verwendet.
Bei Nerven- und Gelenkschmerzen können Auflagen und Packungen aus zerquetschten oder überbrühten Blättern lindernd wirken. Wir können auch einen starken Aufguß herstellen und als Badezusatz verwenden.
Eine Tinktur können wir im Herbst aus frisch gepflückten Blättern und einigen blühenden Trieben herstellen. Wir zerkleinern sie grob mit einem scharfen Messer, füllen sie in ein Glas bis ca. 1 cm unter den Rand und gießen mit mindestens 40 %igem Wodka auf. Alle Pflanzenteile sollten bedeckt sein. Dann verschließen wir das Glas und stellen es auf eine sonnige Fensterbank. Nach 6 Wochen wird der Inhalt durch einen Kaffeefilter oder ein sauberes Leinentuch gegossen und in dunkle Tropfflaschen gefüllt. Diese Tinktur hält jahrelang. Bei Husten, Asthma und Schilddrüsenunterfunktion nehmen wir 1 bis 3 mal täglich 2 – 5 Tropfen in etwas Wasser.
Brauchen wir Efeus seelische Unterstützung, geben wir 2 Tropfen in Wasser, warten einige Minuten und trinken dann einen Schluck.*
Nach vier Wochen Anwendung sollten wir eine Pause von ebenso vielen Wochen machen, damit die Wirkung nicht ins Gegenteil umschlägt. Efeu gehört zu den potentiell giftigen Pflanzen. Er sollte nicht höher dosiert werden.
Pflanzen werden zu unseren Verbündeten, wenn wir sie so oft wie möglich besuchen und ihnen unsere Aufmerksamkeit schenken. Wenn ich Teile von ihnen nehme, bitte ich sie vorher, mir zu helfen. Manchmal geben sie mir Hinweise durch Eingebungen und Träume. Ich danke ihnen mit einem Lied, manchmal mit einer Prise getrocknetem Salbei, ich berühre sie und sage ihnen, wie sehr ich mich über sie freue.
*Dosierungsempfehlung nach Roger Kalbermatten, Wesen und Signatur der Heilpflanzen, 2002
(erstmalig 2007 in der Matriaval erschienen)
Wer sind die Ahnen und was haben sie mit Heilung zu tun?
Ich lese ein Interview mit Prof. Dr. Dr. Malidoma Somé aus Burkina Faso1. Seine Gleichsetzung von „Ahnen“ und „dem Unterbewussten“ fasziniert mich: „Afrika hat kein Wort für das ‚Unterbewusste‘, nur Europa kennt diesen Begriff… Das Unterbewusste ist – um es mal mit anderen Worten zu beschreiben – nichts anderes als eine Art Aufnahmegerät, das die Erfahrungen von Tausenden von Jahren kultureller Erfahrungen aufgezeichnet hat. In Afrika nennen wir das die ‚Verbindung zu den Ahnen‘, in Europa spricht man von der ‚Macht des Unterbewussten‘“.
In Europa ist es nicht üblich, von den Ahnen zu sprechen. Zumindest die spirituelle Frauenbewegung hat die „Ahninnen und Ahnen“ salonfähig gemacht, indem sie die Allerheiligen-Allerseelen-Feiern von den katholischen Überlagerungen befreite. So feiern seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts Frauen und gelegentlich auch Männer die Tage um den 1. November als Zeitraum, in dem der Schleier zwischen der Alltagswelt und der Welt der Toten durchlässig ist und uns Kontakt mit den Ahninnen und Ahnen gewährt. Es werden Lichter für sie angezündet, sie werden zum gemeinsamen Essen und Trinken eingeladen und bekommen ein eigenes Gedeck. In unseren Ritualen sprechen wir manchmal laut die Namen unserer Ahninnen aus, soweit sie in unserer Erinnerung leben.
Beim Schreiben fällt mir auf, daß in meiner Ritualgruppe immer nur die Namen der weiblichen Ahnenlinie – Mütter, Großmütter und Urgroßmütter – genannt werden. Das ist als Reaktion auf die jahrtausendealte Unterdrückung und Entwertung der Frauen verständlich. Ich möchte aber die männliche Ahnenlinie in Zukunft mit einbeziehen und werde darauf später zurück kommen.
Wer sind unsere Ahnen? Natürlich wissen wir, daß das unsere Eltern, Großeltern und Urgroßeltern und diejenigen vor ihnen sind. Je weiter wir in die Vergangenheit zurückgehen, desto mehr verästelt sich der Familienstammbaum. Was sich uns zeigt, sind unsere Wurzeln. Unsere Ahninnen und Ahnen sind die, durch die uns eine Inkarnation als Menschen auf dieser Planetin möglich wurde.
In unseren erstaunlichen und wunderbaren Körpern tragen wir die Traditionen, Glaubenssätze, Gewohnheiten und Erfahrungen unserer unzähligen Wurzeln. Sie lagern in uns wie Eingemachtes im Keller, sie sind unbewusst und werden es in der Regel auch bleiben. Obwohl wir sie weder sehen noch fassen können, bestimmen sie in hohem Maße unser Leben: als unerklärliche Angst, als unüberwindliche Abneigung, als besonderes Talent, als plötzlich durchbrechender Impuls. Vielleicht blitzen selten mal Bilder, Szenen, Gerüche, Eindrücke auf, die aus einer Zeit zu stammen scheinen, die wir mit diesem Körper gar nicht erlebt haben können.
Die Ahninnen und Ahnen wirken aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Ein bekannte afrikanisches Sprichwort sagt: Wir sind nur groß, weil wir auf den Schultern unserer Ahnen stehen. Vor Jahren habe ich mir von der Kykladeninsel Naxos die Nachbildung einer kleinen Statuette mitgebracht. Es ist eine schlanke weibliche Gestalt mit verschränkten Armen, auf deren Kopf ein ganz ähnlich geformtes Kind steht. Die Entstehung dieser Figur wird auf den Zeitraum 1500 bis 3000 v.d.Z. datiert. Die Archäologin Marija Gimbutas zählt sie zu den Göttinnen des Todes und der Regeneration.
Wenn Ahninnen und Ahnen durch alle Zeiten hindurch wirken, gibt es ein Problem: was ist mit denjenigen, die wir gern aus unserer Ahnenreihe tilgen würden? Was ist mit dem missbrauchenden Vater, der vernachlässigenden Mutter, dem SS-Großvater und der Stasi-Großmutter? Wenn ich noch weiter zurück schaue: Was ist mit dem Raubritter unter unseren Vorfahren, mit dem Großgrundbesitzer, der seine Leibeigenen schlecht behandelt und sich das „Recht der ersten Nacht“ herausnimmt? Was ist mit all den Päpsten, Inquisitoren, Henkern, Folterknechten, Denunziantinnen? Wenn ich noch weiter zurück gehe, komme ich bei den keltischen und germanischen Kriegern an, die aus der asiatischen Steppe nach Europa kamen und die friedliche Urbevölkerung mit Gewalt, Raub und Vertreibung überzogen. Sie sind alle unsere Ahninnen und Ahnen. Wir tragen eine Menge Gewalt und Entwurzelung in unseren Genen.
Es bringt uns wohl kaum weiter, wenn wir die, die vor uns waren, glorifizieren und ebenso wenig, wenn wir sie ignorieren. Deshalb werde ich bei künftigen Ahninnen-Ritualen auch die männlichen Vorfahren nennen. Einen Teil meiner Herkunft zu verleugnen bedeutet einen Teil meiner selbst zu verleugnen.
Mir hat es gut getan, zunächst anzuerkennen, daß ich alles in mir habe: das Gewalttätige und das Liebevolle, das Kreative und das Zerstörerische, die Zärtlichkeit und die Strenge, die rasende Wut und die ausgleichende Weisheit. Als Angehörige der 68er-Generation habe ich lange Jahre damit verbracht, meinen Eltern schwere Vorwürfe zu machen: sowohl für ihr passives Mittun im Nationalsozialismus wie auch für meine persönlichen Schwierigkeiten. Mein Zorn ihnen gegenüber loderte mit wechselnder Heftigkeit und wurde durch eine Körpertherapie und anschließende Therapieausbildung immer wieder angefacht.
Irgendwann aber war ich es leid, auf Anweisung meines Lehrers zum hundertsten Mal meinen Vater symbolisch mit Hilfe eines Teppichklopfers und eines Matratzenstapels zu verhauen und zu beschimpfen. Es brachte mir nur noch Blasen am Daumen und eine heisere Stimme. Das, wonach ich mich sehnte, konnte ich so auf keinen Fall erreichen. Wonach aber sehnte ich mich? Ich wollte endlich mit mir selbst im Reinen sein und mich wohl in meiner Haut fühlen. Ich wollte den Krieg gegen eine Vergangenheit aufgeben, die nicht mehr zu ändern war.
Ich ahnte auch, daß ich selbst über kurz oder lang das Objekt des Zorns meiner Kinder sein würde. Ich konnte mir als Mutter einiges vorwerden und gleichzeitig erkennen, daß ich alles immer so gut gemacht hatte, wie ich konnte. Hinterher weiß eine immer mehr und beginnt vielleicht ihren Ahnungen zu glauben. Durch sie sprechen unsere Ahninnen zu uns.
2004 hatte ich die Gelegenheit mich bei einem gemeinsamen Mallorca-Urlaub mit meiner Mutter über die Vergangenheit zu unterhalten. Ich erzählte ihr, wie sehr ich darunter gelitten hatte, daß meine Wünsche etwas mit Jungen anzufangen, massiv von meinen Eltern behindert wurden. Sie antwortete bedauernd: „Ich war ein Kind meiner Zeit.“ Da keimte Verständnis in mir, sogar ein wenig Mitgefühl.
Den letzten Schliff bekam die Versöhnung mit meinen Ahnen durch eine Naikan-Woche 2008. Naikan2 ist eine Selbsterkenntnismethode, bei der eine Person eine Woche lang von früh morgens bis spät abends hinter einem Wandschirm sitzt, abgeschnitten von allen Außenreizen, und sich mit drei Fragen befasst, die sich auf einen oder mehrere Menschen aus meinem Beziehungsumfeld beziehen. Das sind in der Regel Mutter, Vater, Großeltern, Liebespartner, Kinder. Die drei Fragen sind:
Was hat diese Person für mich getan?
Was habe ich für sie getan?
Welche Schwierigkeiten haben wir ihr verursacht?
Alle zwei bis drei Stunden kommt der Naikan-Leiter, öffnet den Wandschirm ein wenig und fragt: „Was hast du herausgefunden?“ Er lässt sich berichten ohne zu kommentieren, verbeugt sich und schließt den Wandschirm wieder.
In der Abgeschiedenheit und Selbstbezogenheit, in der alle gewohnten Ablenkungsmöglichkeiten wegfielen – sogar das sehr gute, liebevoll zubereitete Essen bekam ich hinter dem Schirm serviert – habe ich mich Tag für Tag tiefer und detailgetreuer an sehr weit zurückliegende Ereignisse erinnern können und mehr als einmal kamen mir die Tränen bei der Erkenntnis, was ich von meinen Eltern und Großeltern (und Ehemännern) bekommen habe.
Wir sind es so sehr gewöhnt, wie unter einer Lupe die Verfehlungen und Versäumnisse der anderen zu sehen. Durch die drei Naikan-Fragen wird jedoch der Blick wirkungsvoll immer wieder auf die bisher in Dunkel gehüllte Seite gelenkt. Das führt erst zu einem vollständigen Bild.
Für mich war Naikan der Weg, der mich weiterbrachte, um das ganze Wurzelwerk meiner Vorfahren anzunehmen und Frieden zu erlangen. Indem ich meine Ahninnen und Ahnen annahm, konnte ich heil und ganz werden. Indem ich mit ihnen Frieden schließe, kann ich auch in Frieden mit mir selbst sein.
Übrigens hat mein persönlicher Ahnenversöhnungsprozess einen unerwarteten Nebeneffekt hervorgebracht: In seinen letzten Lebensjahren konnte mein Vater mir das Lob und die Anerkennung geben, die ich mir solange vergeblich gewünscht hatte.
Ähnliches habe ich auch von anderen gehört: Hört das innere Verurteilen auf, verändert es das eigene Feld ebenso wie das der Menschen um mich herum. Dann wird zwischenmenschliche Entspannung möglich.
Nachdem ich von unseren menschlichen Ahninnen gesprochen habe, möchte ich tiefer in die Zeit hinabsteigen:
Die menschliche Gattung ist nicht aus dem Nichts entstanden. Als Menschen sind wir die jüngste Variante der Säugetiere. Aus ihnen sind wir entstanden, sie leben als Ahnen in unserer DNA. Wir können noch weiter zurückschauen: die Reptilien, die Weichtiere, die Insekten, die Fische, die Saurier sind unsere Ahninnen und Ahnen. Sämtliche Pflanzen einschließlich der Farne und Schachtelhalme, die Pilze, Bakterien und Viren, die Einzeller der Urzeit, die Urelemente Wasser, Feuer, Erde, Luft, Licht, Sterne, wirbelnde Galaxien, die dunkle Materie und das Chaos des Urknalls – alles, was vor uns war, tragen wir in uns. Ich halte es für möglich, daß unsere Ahnenlinie noch weiter zurück reicht, aber hier verlässt mich meine Vorstellungskraft.
In den oft zitierten Worten der nordamerikanischen First Nations „alle meine Verwandten“ finden wir das Bewusstsein davon, daß die Kopffüßler der Jura- und Kreidezeitmeere unsere Knochen bilden und das Wasser der Urmeere und Eiszeitgletscher mit unseren Körperflüssigkeiten zirkulieren, daß die Luft, die wir einatmen, zuvor von den grünen Pflanzen ausgeatmet wurde und die Wärme unsere Körper auf unsere genetischen Verbindung zum Feuer hinweist.
Auch in Europa gab es dieses Bewusstsein einmal: unter den Höhlenbildern der altsteinzeitlichen Jäger-Sammlerinnen-Kulturen finden sich Mischwesen, z.B. Vogelfrauen und Hirschmänner, die auf die auf diese tiefe Verbindung hinweisen.
Das aus dem Althochdeutschen abgeleitete Wort „Enkel“ bedeutet „kleiner Ahn“. Hier finden wir den universellen Glauben an die Wiedergeburt, die zyklische Wiederkehr alles Lebendigen. Die Überzeugung, daß alles, was vergeht wieder geboren wird, macht die Würdigung der Ahninnen vollständig.
Wenn wir nun anfangen können, uns vorzustellen, daß wir wirklich mit allem verwandt sind und uns als bisher jüngstes Kind unserer unzähligen Vorfahren sehen, dann beginnt möglicherweise auch unser Organismus irgendwann zu fühlen, daß es keine Trennung zwischen uns und der Natur gibt.
Nehmen wir die, die uns den Weg bereitet haben, wieder in unser Leben, werden wir zu einem ungeheuer weiten Raum, in dem der ganze Kosmos wohnen kann. Dann sind wir heil!
Lammershagen im März 2014
1 Geseko von Lüpke, Altes Wissen für eine neue Welt
2 www.naikan.de