Genießen

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Vor zwei Tagen hörte ich im Radio einen Ausschnitt eines Interviews mit der Schriftstellerin Juli Zeh. Sie erzählte, wie wenig sie die Zeit mit ihren Kindern genießen konnte, z. B. wenn sie mit ihnen auf dem Spielplatz war, weil sie immer daran denken musste, was es alles noch zu tun gab. Sie sagte auch, daß es praktisch unmöglich sei, Arbeit und Kind unter einen Hut zu bringen und beides noch gut zu machen. Da muss ich ihr aus vollstem Herzen zustimmen: ich weiß selbst, daß es nur ganz schlecht geht. Alle leiden darunter, am meisten Kind und Mutter. Bei mir musste es gehen, und ich war nicht nur voll berufstätig sondern auch in der Ausbildung, als mein Sohn noch sehr klein war. Ich habe das geschafft, weil es sein musste, aber der Preis war extrem hoch. Während der Vorbereitung auf die Krankenpflegeprüfung habe ich extrem an Gewicht verloren und war davor schon ein Leichtgewicht. Meinem Sohn bin ich nie gerecht geworden. Ich habe ziemlich viel Energie darauf verwendet, meinen damaligen Mann dazu zu bringen, seinen Anteil an der Hausarbeit zu übernehmen und habe diesen Kampf verloren. Ich habe über Jahre sehr wenig geschlafen, um alles zu schaffen. Im Rückblick kann ich nur sagen: die Sache ist nicht erstrebenswert. Ich finde nach wie vor, daß Frauen ihr eigenes Geld verdienen sollten. Mich hätte ein Dasein als Hausfrau und Mutter nicht erfüllt. Aber irgendwie müsste das anders geregelt werden. Ich finde, vier Stunden Arbeit am Tag reichen voll und ganz – und zwar für alle.

Genossen habe ich mein Kind auch nicht. Überhaupt wusste ich damals kaum etwas von Genuss. Daß man Essen, Musik, Sex und manche Menschen genießen kann, erfuhr ich erst viel später, als ich schon die erste Ehe hinter mir hatte. Woran das lag? Meinen Eltern kann ich es nicht anlasten. Sie haben mich zwar nicht zur Faulheit erzogen, aber ich habe mich in meinem Elternhaus auch nicht kaputt arbeiten müssen. Überhaupt habe ich das Arbeiten erst später gelernt. In der linken Organisation, in der wir damals tätig waren, wurden Wochenpläne geführt wie in der Schule. Es kam schon mal vor, daß einer der Obergenossen eine Person aufforderte, diesen Plan vorzuzeigen. Wenn es dann Lücken von ein oder zwei Stunden gab, wurden die ganz schnell mit Terminen vollgestopft: hier noch mal eben einen Büchertisch vor Karstadt, da noch ein paar Mitgliederbesuche machen. Schlafen galt als Zeitverschwendung. „Eine Revolution, bei der ich nicht tanzen kann, ist nicht meine Revolution“ – diesen berühmten Satz der Anarchistin Emma Goldmann kannte ich damals noch nicht. Hätte er mir denn die Augen dafür geöffnet, daß meine Organisation nicht besser war als alle Kapitalisten, die die Werktätigen ausquetschten bis aufs Blut? Damals wahrscheinlich nicht. Ich war wie die meisten von uns von dem Glaubenssatz besessen, daß es um Leben und Tod ging.

Heute ahne ich, daß es dieses Immer-Tun ist, was uns an den Abgrund gebracht hat. Und daß Genießen möglicherweise das ist, was uns und alles, was lebt, retten könnte.

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Das ist Lenchen, die seit fast zwei Wochen bei mir lebt. Sie ist etwa ein Jahr alt und kommt aus dem Tierheim.

Garten

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Als ich aus Schweden zurückkam, war ich sehr überrascht über den üppigen Zustand des Gartens. Nach der langen Dürre waren die Pflanzen in ihm förmlich explodiert: eine Farborgie aus Grüntönen und allen Farben.

I. erzählte mir, daß sie mit dem Kartoffelausbuddeln angefangen und gleich wieder aufgehört hat: die Knollen waren winzig. Vorgestern machte ich mich in meinem Garten an die Arbeit und war angenehm überrascht. Die Kartoffelernte fiel nicht so üppig aus wie im letzten Jahr, aber die Größe ist passabel. Besonders das Beet, das ich mit einer ca. 20 cm hohen Mulchschicht aus Krautigem, ausgehackten Wildkräutern, Rasenschnitt und Laub bedeckt hatte, gab recht große Kartoffeln her. Der vor zwei Jahren eingeschlagene Permakulturweg lohnt sich also! Ich habe auch gegossen, aber erst etwa vier Wochen nach Einsetzen der Dürre damit angefangen und immer nur im vier-Tage-Turnus mit relativ bescheidenen Mengen Wasser.

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In Ammarnäs fanden wir einen Hügel, auf dessen steiler Südseite seit sehr langer Zeit Kartoffeln angebaut werden, der Potatisbacken (Kartoffelhügel). Das ist eine clevere Methode, die kurzen Sommer zu nutzen und die Kartoffeln vor dem früh einsetzenden Frost zu schützen. Wir kauften dann beim Landhändler im Dorf jede einen 2 kg-Sack dieser Mandelkartoffeln (so heißen die tatsächlich), die sehr klein und hörnchenförmig sind, nur zehn Minuten Kochzeit brauchen und wirklich lecker sind.

Der Holsteiner Cox hat dürrebedingt viele Blätter abgeworfen und die meisten Äpfel haben die hungrigen Wespen und Hornissen verputzt. Aber jetzt ist ein Wunder geschehen: Der Baum blüht zum zweiten Mal in diesem Jahr!

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Sehnsucht und Angst

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Diese Fotos hat mir mein Schwiegersohn geschickt. Sie sind jeweils vom Juli 2017 und 2018 und zeigen Katharina und mich beim Abstieg vom Steinkopf in der Rhön. Man kann deutlich die Auswirkungen der Dürre sehen. Die gab es übrigens sogar in Lappland, wenn auch für uns nicht zu erkennen. Eine Verkäuferin in Jokkmokk erzählte, man habe den Rauch der brennenden Wälder bis in den Ort gerochen. Auch sie war froh über den mittlerweile einsetzenden Regen.

Warum interessieren sich soviel Menschen – ich zähle mich dazu – für Indianer oder andere indigene Kulturen? Ich glaube, es ist in unsere DNA eingeschrieben, daß wir auch einmal in engster Verbindung mit der Natur gelebt haben und uns als Teil des Großen Ganzen gefühlt haben. Dahin scheint die Sehnsucht vieler Menschen zu gehen, möglicherweise nicht bewusst. Die Zeit der Jäger*innen- und Sammler*innen war die Zeit vor dem Beginn der Kultivierung der Erde, der sogenannten neolithischen Revolution, die in meinen Augen der wahre Sündenfall war. Auch wir waren mal Indigene: in unseren Genen finden sich Spuren der europäischen Urbevölkerung ebenso wie die der eingewanderten Kriegerstämme aus der asiatischen Steppe, die Kelten und Germanen genannt werden. Die ältesten Urvölker in Europa sind die Basken und die Samen, erstere sollen von den Cro Magnon-Menschen abstammen, die z. B. das Dordogne- und Vézère-Tal in Frankreich bewohnt haben. Manche Skeptiker sagen gern, daß die Jäger*innen und Sammler*innen nicht sehr alt geworden seien, ein hartes Leben gehabt haben und alle Sehnsucht nach der alten Zeit nichts weiter als romantische Spinnereien seien. Was das Alter angeht: was ist gegen ein Lebensalter von 30 oder 40 Jahren einzuwenden, wenn es ein erfülltes Leben ist? Umgekehrt: was ist gut an einem Leben von 90 Jahren, wenn es durch die zweifelhaften Segnungen der modernen Medizin künstlich verlängert wurde und in einem Pflegeheim endet? Und was die Härte angeht: an den noch existierenden Urvölkern kann man sehen, daß sie etwas haben, was uns völlig abgeht: massenweise Zeit. Und daß sie diese Zeit nutzen, um das Leben zu genießen.

Überhaupt ist es ja ein Irrglaube, daß die modernen Menschen mehr Zeit als unsere Vorfahren haben: wir arbeiten nach wie vor acht Stunden am Tag, versuchen in der verbliebenen Zeit unseren Kindern, unserem Haushalt und unseren sonstigen Verpflichtungen gerecht zu werden. Ich finde z. B., daß die elektronischen Medien sehr viel Zeit verschlingen: ständig muss irgendwas aktualisiert, gesichert, gespeichert, abgerufen etc. werden. Die Wege zur Arbeit sind für viele länger geworden und alles in allem ist das Leben in den letzten 40 Jahren nicht unkomplizierter geworden.

Als ich heute bei den Bienen saß, kam mir in den Sinn, daß das Zeithaben eine wesentliche Voraussetzung für mystische Erfahrungen ist. Das Erleben von Einheit mit den anderen Wirklichkeitsebenen setzt Muße und einen erwartungsfreien Geist voraus. Neulich las ich, daß die Menschen unseres Kulturkreises noch bis zur Reformation relativ wenig gearbeitet und viel freie Zeit gehabt haben. Das wurde dann durch Martin Luther und die anderen Reformatoren beendet: da galt nur ein arbeitsames Leben als gottgefällig: Muße ist aller Laster Anfang, wird gesagt. Auch eine Methode, Menschen daran zu hindern, ihre eigenen spirituellen Erfahrungen zu machen und sie stattdessen abhängig vom spirituellen Spezialisten, dem Pfarrer zu machen. Ich brauche jedenfalls meine täglichen Traumzeiten, in denen ich nichts tue und nur rumsitze und in die Landschaft schaue.

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Die Ereignisse in Chemnitz und die unerträglichen Äußerungen unseres Innenministers zum Thema Geflüchtete lässt mich annehmen, daß nicht nur die Sehnsucht sondern auch die Angst in unserer DNA gespeichert ist. Fremdenfeindlichkeit geht möglicherweise darauf zurück, daß es tief in uns Erinnerungsspuren aus der Zeit gibt, in der unsere Urahnen aus Asien geflohen sind – vielleicht hat der Hunger sie vertrieben – und sich mit mehr oder weniger Gewalt das Land angeeignet und die Urbevölkerung verdrängt haben. Ebenso mögen sich Erinnerungsspuren an die Gewalt finden, die der Urbevölkerung angetan wurde. Von beiden stammen wir ab. Und nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter tragen Erinnerungen mit sich herum, die als latentes Gift wirken, solange sie nicht bearbeitet und erlöst werden. Ein ehemaliger Kollege, der lange vor der Flüchtlingswelle seinen immensen Hass auf türkische Mitbürger äußerte, antwortete auf meine Frage, was er denn für ein Problem habe: „Die nehmen uns die Frauen weg.“ Das ist keine reale Erfahrung von heute und schon gar nicht seine (seine eigene Frau war nicht wegen eines Türken gegangen sondern wegen des Alkoholismus ihres Mannes).

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Der Norden

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Samengrab auf dem Friedhof von Ammarnäs

Ganz allmählich komme ich wieder in meinem Dorf und meinem Leben in Deutschland an. Ich hatte nur einen Tag frei zwischen meiner Ankunft und dem ersten Arbeitstag, eigentlich zu wenig. Ich denke viel an Lappland und möchte da gern wieder hin, noch weiter in den Norden. Wir haben nur die Taiga, also den Fichten- und Birkenwald kennengelernt. Mich reizt die Tundra, wo Permafrost herrscht und wo die Rentiere im Sommer leben, wenn sie vor den Mücken fliehen.

In Ammarnäs hatten wir eine schöne Begegnung mit einem Schweden, der ein Hüttendorf verwaltet. Er kam auf uns zu, als wir das Auto auf einem Parkplatz an den Hütten abgestellt hatten. Ich fragte ihn, ob er Geld fürs Parken von uns haben wollte, weil ich das auf den angebrachten Schildern gelesen hatte. Er sagte, Leute, die fragen, müssen nichts bezahlen. Das gefiel mir schon mal. Dann fragte ich ihn, ob wir die Skulpturen in einer der Hütten ansehen dürften. Da stand nämlich ganz groß Skulpturum dran.  Ja, das dürften wir, sagte er, und wir könnten uns auch deutsch unterhalten. Wie viele Schweden sprach er recht gut deutsch. Er schloss uns die Hütte auf: alles war voller Skulpturen, über die er uns sehr viel erzählte. Die Künstlerin lebt dort nicht mehr, sie ist sehr krank, aber sie war wohl mal sehr bekannt. Offensichtlich kannte er sie sehr gut; so wie er über sie redete, waren sie vielleicht sogar mal ein Paar. Sie heißt Marita Norin. Nicht alle ihrer Kunstwerke gefielen mir, aber es waren einige dabei, die mich extrem ansprachen. Es gab ein paar Skulpturen von Paaren, die Sex miteinander hatten. Das war in großer Deutlichkeit abgebildet, gleichzeitig von einer solchen Heiterkeit und Gelöstheit, daß es mir richtig ans Herz ging. Ich habe mich in der Vergangenheit nie wohl gefühlt mit den Pornos, die ich bei Männern gesehen habe und habe oft darüber nachgedacht, welche Art von Pornografie mich anmachen und erfreuen könnte. Ich glaube, Marita Norin hätte den richtigen Ansatz dafür.

Wir fragten dann, wo in Ammarnäs wir einen Kaffee und ein Stück Kuchen bekommen könnten. „Ich habe Kuchen“, sagte unser Begleiter, „und ich mache euch Kaffee.“ Er führte uns in ein schönes rundes Holzhaus mit zwei Ebenen, das eine Art Gemeinschaftshaus ist. Auch dort standen lauter Skulpturen von Marita Norin, auch Entwürfe für Medaillen. Eine bildete Pippi Langstrumpf ab. Er fragte, ob wir sie kennen. „Jedes Kind in Deutschland kennt Pippi Langstrumpf“, antwortete ich. Wir bekamen Kaffee und Kekse und unterhielten uns. Das war eine schöne und einfache Begegnung.

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Samenflagge auf dem Friedhof von Ammarnäs

Die Belgierin, mit der ich mich im Wandererheim in Jokkmokk unterhielt, sagte, immer wenn sie in Lappland sei, fühlte sich das Leben so einfach an. Sie wolle dieses Gefühl festhalten, aber wenn sie zu Hause sei, ginge das nicht mehr. Das kenne ich gut. Ich hatte es zum ersten Mal auf einem Campingplatz in La Ciotat an der Cote azur in Frankreich: Essen kochen auf dem Gaskocher, Wäsche im Spülstein mit Kernseife und einer Wurzelbürste waschen, ansonsten Sonne, Meer, Entspannung. Solche Urlaube machen mich offen für neue Erfahrungen. Zu Hause lege ich dann wieder ganz automatisch meine Schutzschilde an. Wahrscheinlich muss das auch so sein, besonders wenn eine in der Stadt wohnt. Ich glaube, ich käme nicht klar, wenn ich alle Gefühle und Vibrationen, die durch Straßen und öffentliche Gebäude wabern, aufnehmen würde, ganz zu schweigen vom Autoverkehr und Benzingestank.

Heute sah ich den Bienen zu, die mit Pollenhöschen nach Hause kamen, sich auf dem Flugbrett mit ihren Köpfchen anstupsten und leise und friedlich summten. Die erste Herbstzeitlosenblüte schaute aus der Wiese und auch der Himmel wirkte schon leicht herbstlich. Ich fühlte mich ganz wohl und einverstanden mit dem Leben.

Übrigens haben I. und ich die lange Reise ganz ohne Navi gemacht und haben uns nur einmal in Oslo ganz kurz verfahren, nachdem wir von der Fähre kamen. Ich sage das, weil Navis in meinem Freundes- und Bekanntenkreis mittlerweile als absolut unentbehrlich gelten. Ich will aus zwei Gründen kein Navi: erstens möchte ich mich nicht von einem Gerät abhängig machen, sondern weiterhin meine Sinne benutzen, um mich in der Welt zurecht zu finden. Zweitens wird für die Herstellung von Navis ebenso wie von Handys Coltan gebraucht und dafür wird der Kongo aufs Übelste ausgebeutet und ökologisch vernichtet.

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Matriarchat

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I. am Polarkreis

Die samische Sängerin Mari Boine sagte kürzlich in einem Interview, die Samen seien ursprünglich matriarchal organisiert gewesen. Das haben sie mit allen bisher bekannten Jäger- und Sammlerkulturen gemeinsam. Übrigens erwähnt schon Tacitus, daß bei den im hohen Norden lebenden Stämmen Männer und Frauen gemeinsam gejagt hätten. Das schmeißt das alte Vorurteil über den Haufen, daß die Männer das erlegte Wild nach Hause gebracht hätten, während die Frauen Wurzeln und Früchte gesammelt hätten. Die klassische Arbeitsteilung eben. Es ist also gar keine neue Erkenntnis.

Was Luisa Francia in ihrem Post vom 26.8. auf www.salamandra.de über ihren Besuch im Museum von Les Eyzies in Frankreich erzählt, macht mich traurig: wieder die ebenso alten wie falschen Klischees vom Mann als Vater aller Dinge, die Frau kommt dann unter ferner liefen. Ich war 1989 im Vézère-Tal und habe auch Les Eyzies besucht. Damals war der Tourismus in dieser Region noch überschaubar und die Museen nicht so aufgemotzt wie heute. Ich hatte dort eine wirklich schöne und aufschlussreiche Zeit, in der ich das erste Mal erfahren habe, daß Krieg eine recht neue Erfindung ist und Menschen für sehr, sehr lange Zeit in Frieden mit sich und der Natur lebten.

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Der wilde Vindelälven bei Ammarnäs

Beim Frühstück im Wandererheim in Jokkmokk hörte ich einer Unterhaltung am Nachbartisch zu: eine deutsche Frau erklärte ihren beiden männlichen Zuhörern mit großer Überzeugtheit, daß Menschen selbstverständlich intelligenter als Tiere seien, das sei schließlich auch wissenschaftlich bewiesen. Von einem ihrer Zuhörer kamen deutliche Einwände. Darauf erklärte sie, daß allein die Kunst Beweis genug für die meilenweite Überlegenheit des Menschen sei. Ich weiß, daß ich mir keine Freunde mache, wenn ich mich in die Gespräche anderer Leute einmische, aber das war mir in dem Moment egal (und ist es jetzt immer noch, denn diese Frau will ich nicht als Freundin haben). Ich sagte also: „Ich will weder mir noch euch das Frühstück verderben, aber eins muss ich jetzt doch sagen: was ich hier höre, ist die typische menschliche Überheblichkeit, die schon im Alten Testament mit dem Satz ausgedrückt wurde: Macht euch die Erde untertan usw. Wohin uns das führt, können wir jetzt ja deutlich sehen.“ Die Frau sagte nichts mehr, der Mann, der den Einwand gegen die Unterlegenheit der Tiere geäußert hatte, sagte später zu mir, daß jetzt das Zeitalter der Frauen sei, nachdem die Männer so lange geherrscht hätten und daß das für die Männer schwer wäre. Ich sagte , ich fände, daß doch auch die Männer nur profitieren könnten, wenn sie Frauen endlich auf Augenhöhe begegneten statt auf sie herunter zu sehen. Er hatte da seine Zweifel, aber wir konnten das Gespräch nicht fortsetzen. Als I. und ich zum Auto gehen wollten, stand er auf der Veranda und beim Abschied kam es zwischen uns zu einem sehr intensiven Blickkontakt, wie ich ihn nur selten erlebe. Das hat mir ziemlich gut gefallen.

Gefallen hat mir auch dieser Spruch, den ich in Göteborg an der Wand eines Cafés fand:

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Apropos Kunst: als I. und ich an einem sonnigen Tag froh und faul auf der Veranda saßen, wies sie mich darauf hin, daß die Spitzen der Fichten vor dem hellen Himmel an Schneeflocken erinnerten. Da erkannte ich es auch. Also ist die Natur die allererste Künstlerin!

 

 

Lappland

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Gestern sind I. und ich von unserer 15tägigen Reise in den schwedischen Teil von Lappland zurückgekommen. Einige hatten uns geraten zu fliegen und uns in Schweden einen Mietwagen zu nehmen. Aber Fliegen macht mir schon lange keine Freude mehr. Auf dem Hinweg fuhren wir mit der Fähre von Frederikshavn in Dänemark nach Oslo und von da Richtung schwedische Grenze und dann bis hoch in die Nähe von Sorsele. Der Rückweg führte uns über Östersund und Amal am Vänersee bis Göteborg und dann mit der Fähre bis Kiel. Wir brauchten jeweils etwa drei Tage mit zwei Übernachtungen. Das ging gut und fühlte sich wie richtiges Reisen an: sich allmählich mit einer Landschaft bekannt machen und dabei noch etwas vom Leben in Schweden mitzubekommen. Die Straßen in Schweden sind, je weiter nördlich desto leerer, und man kann nicht schnell fahren – sehr angenehm.

Unsere Hütte etwa 60 km westlich von Sorsele stellte sich als Bruchbude heraus. Anfangs mussten erst mal die deutlichen Spuren unserer Vormieter beseitigt werden, ehe ich Lust hatte, meine Sachen einzuräumen. Die Klinke der Badezimmertür schraubte I. mit ihrem Schweizer Messer an, die herausstehenden Nägel auf der Veranda klopfte ich mit einem Stein fest, damit ich nicht ständig mit meinen Füßen daran hängen blieb. Das Wasser in der Duschkabine lief nicht Richtung Abfluss sondern in die Ecke. Aber der Herd und der Kühlschrank funktionierten ebenso wie die Elektroheizkörper, in den Betten schlief es sich gut trotz sehr dünner und weicher Matratzen. Ein Elchgeweih im Wohnzimmer diente uns als Aufhängevorrichtung. Das wackelige Geländer an der Verandatreppe konnten wir nicht reparieren, ebensowenig die lose Stufe, die mich fast zu Fall gebracht hätte. Wir meckerten nicht, sondern nahmen es mit Humor. Im Übrigen hatten wir einen Spottpreis für die Unterkunft bezahlt und als wir den Schlüssel in Empfang nahmen schon bei einem kurzen Blick in das Haus unserer Vermieter erkannt, daß Sauberkeit und Ordnung nicht zu ihren Prioritäten gehörten.

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Wir hatten eine schöne Zeit: das innere Summen legte sich nach und nach, die enorme Stille der nordischen Landschaft half ruhig zu werden und ganz in der Gegenwart zu leben. Mehr und mehr konnte ich mich öffnen für das, was mir dort im Norden, wohin es mich seit einem Jahr magisch gezogen hatte, begegnen wollte. Das war so einiges: gleich am ersten Tag machten wir Bekanntschaft mit ein paar Vögeln, die unglücklicherweise Unglückshäher genannt werden und in Mitteleuropa nicht vorkommen. Sie sind sehr neugierig und wann immer wir uns irgendwo hinsetzten, kamen sie nah heran und beobachteten uns.

Wenn ich morgens mit meiner Tasse Kaffee auf der Veranda saß und auf den See, die Birken und die Fichten schaute, bekam ich Besuch von Bachstelzen und zweimal von einem Wanderfalkenpaar, das gar nicht scheu von einem Baum zu mir herüber spähte. Auf der Wiese blühte Feuerkraut, Augentrost, Frauenmantel, Storchschnabel und Schafgarbe. Bei unseren Streifzügen durch die wilde Landschaft entdeckten wir unzählige Ameisenhaufen, Rentier- und Elchspuren, eine riesige Rengarde, in der im Juni/Juli die Rentierscheidungen der Samen stattfinden, massenweise Blaubeeren und Preiselbeeren, wilde Bäche, spiegelblanke Seen und viele Pilze, mit denen ich mich leider nicht auskannte. Ich entdeckte auch Bärlapp, den ich bisher nur von Fotos kannte und einen Eisenhut, den ich in keinem meiner Pflanzenbestimmungsbücher finden konnte.

In der Vollmondnacht am Sonntag sah ich vorm Insbettgehen auch Polarlichter: nicht die grünleuchtenden Vorhänge, die ich mit J. 1994 in Finnland gesehen hatte, sondern weiße flatternde Bänder, die von einem Moment auf den anderen verschwanden und sofort an neuer Stelle wieder auftraten. Solche Phänomene machen mich glücklich.

Abends kochten wir uns etwas Leckeres und saßen in der warmen Stube. I. las mir aus Immer Ärger mit Harry vor und wir lachten uns schief und scheckig über den köstlichen englischen Humor, wir lasen, erzählten uns etwas und ich strickte Socken aus der schönen Wolle, die ich in Jokkmokk entdeckt hatte.

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Wir unternahmen nämlich auch einen zweitägigen Ausflug nach Jokkmokk. Das liegt zweihundert Kilometer weiter nördlich im Polarkreis. Man braucht aber wegen der Straßenbedingungen vier Stunden dahin. Wir sahen auf unserer Fahrt Rentiere, die gemütlich auf der Straße zockelten und keine Eile hatten, uns Platz zu machen. Das war schön, weil wir sie uns so genau ansehen konnten. In Jokkmokk übernachteten wir in der sehr schönen Jugendherberge. Ich hatte dort ein langes Gespräch mit einer Belgierin, die seit vielen Jahren nach Lappland fährt, weil sie die Stille braucht. Das kann ich gut verstehen: in meinem winzigen Heimatdorf ist es sehr ruhig, aber in Lappland ist es ganz still. Wenn da etwas Geräusche macht, sind es der Wind und die Krähen und Raben oder einige andere Vögel. Der Himmel ist frei von Kondensstreifen, die Luft so klar und sauber. Eine deutsche Frau in der Herberge kommt seit Jahren nach Jokkmokk und studiert in der Sami-Bibliothek Bücher über dieses alte Volk mit seiner besonderen Kultur, das das gleiche Schicksal hatte wie alle anderen indigenen Völker: Gewalt, Entwurzelung, Zwangschristianisierung. Letztlich das Schicksal, das auch unsere Urahnen erlitten haben.

Jokkmokk, mit seinen etwa 2700 Einwohnern eher ein großes Dorf, hat ein fantastisches Museum, Aijtte genannt. Hier wird die Geschichte und das Leben der Sami auf eine ansprechende und sympathische Weise vermittelt. Ich hätte Tage darin verbringen können. Die Samen erklären sich mit anderen indigenen Völkern solidarisch, aktuell mit den First Nation-Leuten der Standing Rock-Reservation in den USA. Ihre Lage hat sich zwar verbessert, erzählte mir eine Sami-Frau, man könne heute wieder die eigene Sprache sprechen, was während der Schulzeit ihrer Eltern noch streng verboten war. Aber der Sameting habe keine Mitspracherecht, nur eine beratende Funktion. Und wenn es um Bodenschatzfunde und das Abholzen von Wäldern geht, haben die wirtschaftlichen Interessen der Industrie grundsätzlich Vorrang vor den Interessen der Samen und ihrer Rentiere. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl mussten zehntausende Rentiere geschlachtet und vernichtet werden, da ihr Fleisch stark cäsiumbelastet war.

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