Mein Sohn hat mir einen Link zu einer Dokumentation geschickt, die mich in der Tiefe berührt hat: https://www.arte.tv/de/videos/104396-001-A/die-brotrebellen/
Es geht um einen Franzosen, der zunächst studiert hat, unter anderem Philosophie in Deutschland (im Film spricht er daher auch sehr gutes Deutsch) und dann irgendwann nach Tiflis in Georgien gegangen ist, dort eine Bäckerei eröffnet hat und Brot backt. Für sein Brot nimmt er eine alte Weizensorte, die so hoch wächst, wie ich das noch aus meiner Kindheit kenne und äußerlich wenig Ähnlichkeit mit unserem heutigen Weizen hat. Das Korn wird auf Feldern außerhalb der Stadt angebaut, die er wöchentlich besucht. Es wird deutlich, daß er eine ganz persönliche Beziehung zum Korn hat, aber auch zum Vorgang des Backens. Dabei ist er auch Philosoph: man spürt, daß er genau weiß, worum es geht, was den Namen Lebensmittel verdient, daß die Natur gibt, daß es keinen Sinn macht, etwas für sich zu behalten. Nebenbei sieht man, wie die Tiere im Dorf, das er besucht, leben. Auch diese Bilder erinnern mich ein wenig an meine Kindheit und daran, daß es mal viel bessere Zeiten für die domestizierten Tiere gab als heute (dabei wird mir seit einiger Zeit immer deutlicher, daß eine Biozertifizierung keine Garantie für artgerechte Tierhaltung ist und daß es manchmal besser ist, bei Bauern ohne Zertifizierung zu kaufen, wenn man sie persönlich kennt und weiß, wie die Tiere bei ihnen leben). Zurück zum Bäcker: Er lebt seine Leidenschaft, er ist mit seinem Herzen dabei. Das ist eine Form von Magie und die wirkt dann auch durch das Brot. Übrigens zog, während ich den Film sah, aus meiner Küche der schöne Duft des Roggenbrotes im Backofen zu mir herüber und erfreute mich.
Während des Films musste ich an ein Gespräch mit B. denken, in dem sie von einem Interview mit einer Frau erzählte, die sich wohl als Beziehungsspezialistin sieht und behauptet, daß es zwischen Männern und Frauen einen gravierenden Unterschied gibt: Frauen fühlen viel und Männer wenig. (Ich habe das jetzt wahrscheinlich etwas verkürzt dargestellt, aber so habe ich es jedenfalls verstanden). B. stimmte dieser Haltung zu und sah sich und ihren Freund darin gut dargestellt. Ich stimme dem allerdings überhaupt nicht zu. Als ich jung war, habe auch ich gedacht, daß Männer irgendwie gefühlsamputiert sind und dieses (Vor)urteil immer wieder bestätigt gefunden und darunter gelitten. Aber dann habe ich irgendwann begriffen, bzw. mich für die Einsicht geöffnet, daß Männer genau soviel und tief fühlen wie Frauen. Ich habe Männer kennengelernt, die viel expressiver sind als ich und ebenso solche, die tiefe Gefühle empfinden, diese aber nicht gut ausdrücken können.
Wie kommt nun dieses weitverbreitete Urteil zustande, daß Männer weniger fühlen als Frauen? Ich glaube, daß unsere Sozialisation seit mehreren tausend Jahren hart daran gearbeitet hat, den Männern das Fühlen auszutreiben. Es ist ja auch klar, daß Im Krieg Gefühle eher kontraproduktiv sind. In meiner Kindheit hörte ich oft den Satz: „Jungen weinen nicht.“ Männer hatten hart wie Kruppstahl zu sein. Und ich kann mir vorstellen, daß die Männer der Kriegsgeneration, die an der Front gewesen sind und Grausames gesehen haben, vielleicht auch gar nicht mehr fühlen wollten, weil es einfach zu schmerzhaft gewesen wäre. Dann wäre eine antrainierte Gefühllosigkeit eine Traumafolge. Übrigens: welche Frau wünscht sich denn eine gefühllosen Mann?
Noch ein Satz dazu: Frauen werden oft als die größten Kriegsopfer dargestellt. Daran habe ich mittlerweile Zweifel. Ich denke, daß Männer genauso Opfer sind, wenn sie in einen Krieg gezwungen werden. Sie kommen oft als emotionale Krüppel zurück. Mein Vater zum Beispiel, der nie über seine Kriegserlebnisse gesprochen hat, hatte, seit ich mich erinnern kann, massive Schlafstörungen und war abhängig von Tabletten und später auch Alkohol.
Zum Schluss noch eine Buchempfehlung: Im Grunde gut – eine neue Geschichte der Menschheit von Rutger Bregman, einem niederländische Historiker. Darin räumt er, gründlich recherchiert, mit dem vorherrschenden Glauben auf, daß die Menschen schlecht und vor allem schuld an allem Möglichen sind. Die alte Erbsündengeschichte lebt ja auch in nichtchristlichen Menschen hartnäckig weiter. Rutger Bregman outet sich zwar nicht als Anarchist, aber aus seinem Schreiben kann ich nur schließen, daß er einer ist. Es tut gut, dieses Buch zu lesen. Es zeigt, wozu Menschen fähig sind, wenn man aufhört, sie durch Schule, Staat und andere Institutionen zu gängeln. Wenn man sie also machen lässt, wenn sie ihrem Herzen folgen können. Und da bin ich wieder beim Film über den Bäcker in Tiflis: wenn Menschen ganz sie selbst sein können, dann sind sie soziale Wesen, die sich harmonisch ins große Ganze einfügen und jede*r auf seine und ihre Weise dem Leben dienen wollen. Alles wäre anders, wenn wir das alte Narrativ von der Schlechtigkeit der menschlichen Gattung auf die Müllhalde der Geschichte werfen könnten und uns daran machten, die zu sein, als die wir auf die Erde gekommen sind.