Rechtschaffenheit

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Ich freue mich, daß die Wespen auch dieses Jahr wieder bei mir wohnen.

Mein gestriger innerer Aufruhr entlud sich nicht nur in einem wütenden Post und  manischem Gehacke im Garten sondern auch in einem Wortschwall gegenüber Nachbarin M., die unerwartet vor meiner Tür stand. Eine Freundin musste auch noch dran glauben, als sie anrief, um ein Treffen zu vereinbaren. All diese Entladungen halfen mir nicht wirklich runter zu kommen. Spät abends nahm ich mir dann, einer Eingebung folgend, mal wieder Charles Eisensteins Die schönere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich vor. Dieses Buch ist meine derzeitige Bibel, die ich ab und zu an beliebiger Stelle aufschlage, um darin Anregungen zu finden.

Ich schlug das Kapitel Rechtschaffenheit auf. Wie passend! Ich las und sofort fiel ein Wahrnehmungsfilter von mir. Er schreibt:

„Viele Leute (ich hoffe, ich bin nicht der Einzige!) treffen ethisch oder moralisch erscheinende Entscheidungen mit einem geheimen Ziel im Hinterkopf: um sich selbst und anderen ihre Tugend zu beweisen; um sich die Erlaubnis zu geben, sich selbst zu mögen und gutzuheißen. Untrennbar mit diesem Ziel verbunden ist die Wertungsmentalität all jenen gegenüber, die nicht dieselben Entscheidungen treffen. „Ich bin ein guter Mensch, weil ich recycle (im Gegensatz zu manch anderen).“ „Ich bin ein guter Mensch, weil ich Veganer bin.“ „Ich bin ein guter Mensch, weil ich Frauenrechte unterstütze.“ (…) Wir selbst nehmen unsere Selbstgerechtigkeit nicht wahr, aber andere können sie zehn Meter gegen den Wind riechen. Die Feindseligkeit, die Aktivistinnen und Gutmenschen erregen, hat uns etwas zu sagen. Sie ist ein Spiegel für unsere eigene Gewalttätigkeit.“

Wenn ich den polemischen Umgang von Politiker*innen im Bundestag und anderen Gremien mitbekomme, fühlt sich das immer ziemlich ekelig an. Da beschimpfen sich Menschen gegenseitig offensichtlich nur, um selbst gut dazustehen und Lachen und Beifall dafür zu ernten. Nichts in Deutschland und in der Welt wird besser durch diese verbalen Attacken.

Jetzt ertappe ich mich selbst bei polemischen Tönen. Das Problem dabei ist, daß derjenige, der polemisiert, sich im Recht und auf der Seite der Guten findet. Folgerichtig sind die Angegriffenen die Bösen. Das findet die andere Seite logischerweise umgekehrt genauso. Und das ist Kriegsmentalität. Seit mindestens 2000 Jahren findet dieser Krieg zwischen dem vermeintlich Guten und dem vermeintlich Bösen statt. Weder hat er zu einer schöneren Welt noch zum Ende des Krieges geführt. Und wenn wir glauben – ich bin davon überzeugt – daß wir alle Teil des gleichen Organismus (Erde, Kosmos, All) sind, dann ist es Symptom einer schwerwiegenden Erkrankung (Krebs auf globaler Ebene) diesen Kampf zu führen.

Wir alle habe die Kriegsmentalität verinnerlicht. Ich verurteile mich nicht dafür, ich bin dankbar, daran erinnert worden zu sein. Aufmerksamkeit ist der erste Schritt zur Veränderung. Vielen Dank, Charles!

Als Psychiatrieschwester arbeite ich in einer Institution, die strukturelle Gewalt ausübt. Daran hat auch die Psychiatriereform nichts geändert. Vieles ist besser geworden, aber wir sperren immer noch Menschen ein, die nicht bei uns sein wollen. Wir fixieren immer noch Patient*innen, wenn uns keine bessere Reaktion mehr auf ihre durch Wahn, Delir oder panische Angst motivierte Gewalttätigkeit einfällt. Wir arbeiten in den Psychiatrien immer noch mit Medikamenten, die man selbst nicht freiwillig nehmen würde und mit der berüchtigten weißen Wolke (so heißt die in Minutenschnelle herbeiströmende Masse an Pflegepersonen und Ärzt*innen, wenn Alarm ausgelöst wurde. Diese Übermacht veranlasst Patienten oft schon „freiwillig“ in die Fixierung zu gehen). Wenn ich also denke, daß die Polizei gestapomäßig arbeitet, muss ich auch an das denken, was ich bei meiner eigenen Arbeit mache.

Das ändert nichts daran, daß ich die Abschiebung der albanischen Familie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion entsetzlich finde. Das ändert nichts daran, daß ich weiterhin dafür arbeiten werde, daß Geflüchtete hier bleiben können. Das ändert nichts daran, daß ich meine Energie dafür verwende, eine schönere Welt zu schaffen.

Abschiebung

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Eigentlich wollte ich heute, nachdem mein Nachtdienst beendet war, einen Tag der Stille einlegen: kein Telefonat annehmen, keinen Zeitplan, nur machen, wonach mir ist. Das fing auch ganz gut an mit einem Spaziergang zu einem meiner Plätze im Wald. Als ich nach Hause kam, klingelte das Telefon und als ich den Namen von R. auf dem Display sah, nahm ich dann doch ab. Ich erfuhr, daß am Abend zuvor die albanische Familie, die ich durch den Deutschunterricht kennengelernt hatte, abgeschoben worden war. Gestern Abend auf dem Weg zur Klinik sah ich zwei Polizeiwagen vor dem Haus, in dem sie wohnten. Ganz kurz kamen sie mir in den Sinn, aber ich dachte nicht an Abschiebung. Vielleicht hatte es bei einem der Mieter Ärger gegeben.

Ja, nun weiß ich, daß die deutsche Polizei im Auftrag des Staates zugeschlagen hatte.  Keiner wusste vorher Bescheid. Der Leiter des Sozialamtes erfuhr es erst heute Morgen. So macht man das also in Deutschland, in bester Gestapo-Tradition wie damals zwischen 33 und 45 bei den Deportationen: Leute in einem Überraschungscoup aus dem Haus holen und weg damit! Damit es zu keinerlei Solidarisierungen kommt, darf keiner etwas mitbekommen. Kein Abscheid möglich! Die Tochter dieser Familie hat einen Freund in Deutschland. Es handelt sich um entwurzelte Menschen, die sehr lange in Griechenland gelebt haben, bis man sie im Zuge der Krise dort nicht mehr gebrauchen konnte. Es gibt schwerwiegende Gründe, warum die Rückkehr nach Albanien für sie entsetzlich ist.

Der Mann vom Flüchtlingsrat hatte gesagt, daß ihnen keine Gefahr drohe. Diese Info hatte ich an die Familie weitergegeben. Sie hatten sich für unsere Mühe bedankt. Und nun das!! R. sagte, der Rechtsanwalt, den sich die Familie nach ihrem Negativbescheid vom BAMF genommen hatte, habe eine Frist verpasst, deshalb sei die Abschiebung möglich gewesen. Das macht alles noch viel schlimmer. Immerhin hat er Geld für seine Arbeit bekommen, das diese Menschen eigentlich nicht haben.

Es ist so widerlich! Um mich halbwegs runterzuregulieren, musste ich erst mal in den Garten und mich dort mit der Hacke austoben.

Naja, winziger Trost: spätesten wenn die ganzen Klimaflüchtlinge aus dem Süden die europäischen Grenzen einrennen, kann Innenminister Seehofer sich in seinem „Heimatmuseum“ mitsamt seiner Männerriege verbarrikadieren.  Dann kann er fühlen, wie das ist, nicht ein noch aus zu wissen und keine Hilfe zu bekommen.

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Veränderung

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Gestern machte ich Besorgungen in Kiel und hörte plötzlich die hellen Schreie der Mauersegler am Himmel.  Das rief Erinnerungen an meine letzten Jahre in Münster wach, als wir im vierten Stock eines Altbaus wohnten, um den im Sommer die Mauersegler flogen. Mauersegler holten mich aus meiner düsteren Stimmung nach einer durchwachten Nacht in einem Hotel in Thessaloniki, als ich morgens auf die Toilette ging und ihre Rufe hörte. Sie waren die Botschaft des Lebens, die mich in dieser so ungeheuer lauten Stadt erreichte. Ich stieg auf den Klodeckel, um einen Blick durchs winzige Fenster zu werfen und den rasanten Flug dieser kleinen Vögel zu sehen, die den größten Teil ihres Lebens in der Luft verbringen. Mittlerweile haben sie immer weniger Möglichkeiten zu nisten.

Zu Hause sind nach den Rauchschwalben auch die Mehlschwalben endlich angekommen und haben ein Nest repariert. Heute hing ein weiteres Paar mit ihren kleinen Füßen an der Vorderseite des Hauses. Ich liebe ihr zärtliches Plaudern und hoffe sehr, daß sie ein weiteres Nest bauen. In meinem ersten Jahr in Lammershagen gab es sechs Schwalbennester am Haus. Jedes Jahr wurden es weniger. Keine Insekten – keine Vögel.

Charles Eisenstein schreibt in seinem Blog über den Klimawandel : https://charleseisenstein.net/essays/grief-and-carbon-reductionism/

Die Nachrichten über die Auswirkungen des Klimawandels werden die Menschen in Europa, USA, Australien nicht dazu veranlassen, etwas Entscheidendes zu verändern. Wir sind, schreibt er, zu gut „isoliert“. Bei uns funktioniert ja noch alles: es gibt genug zu essen, man kann noch Geld am Automaten bekommen usw. Was gibt den Antrieb, die Motivation, etwas wirklich grundlegend anders zu machen? Er sagt, es sei Schmerz (grief). So ähnlich sagt es auch Joanna Macy, die Grande Dame der Tiefenökologie. Erst muss der Kummer über das, was wir verlieren, was wir angerichtet haben, so deutlich werden, daß wir ihm nicht mehr ausweichen können. Vielleicht ist es dann aber auch zu spät.

Dann gibt es noch so etwas wie Erweckungserlebnisse: Byron Katie beschreibt, wie sie in einer Zwölf-Schritte-Klinik eines Morgens erwachte und eine Kakerlake sah, die über ihren Fuß spazierte. Sie wusste plötzlich, daß sie und die Kakerlake gleich waren. Von diesem Moment an war ihr Leben völlig verändert. Auch ich hatte so ein Erlebnis Weihnachten 1985, als ich mitten in einer tiefen Depression plötzlich wusste, daß ich so nicht mehr weiterleben wollte. Gleichzeitig wusste ich, daß ich das nicht allein schaffen würde und wo ich Hilfe bekommen würde. Das habe ich an anderer Stelle schon mal ausführlich beschrieben. Von da an änderte sich mein Leben auf eine so grundlegende Weise, daß es keine Ähnlichkeit mehr mit den 32 Jahren davor hatte. Das war nicht mein Verdienst, es war eher ein Geschenk. Von wem? Ich kann es nicht sagen, aber es scheint mir, daß in dem Moment, in dem eine*r ernsthaft bereit für Veränderung ist, Hilfe aus anderen Ebenen kommt. Und so könnte es auch bei dem globalen Problem geschehen, in das die Menschheit das gesamte Leben auf dieser Planetin manövriert hat. Hoffe ich!

Und ich finde, es gibt durchaus Anlass für Hoffnung: immer häufiger entdecke ich Menschen, die anders denken, anders handeln, dabei fröhlich und energiegeladen sind, die das Leben genießen, die die natürliche Verbindung von menschlicher und mehr-als-menschlicher Welt fühlen, Menschen, die fühlen, daß wir alle gleich sind.

Eines bin ich jedenfalls leid: mir das Dauergejammer von Menschen anzuhören, die in einer endlosen Opfer-Täter-Schleife steckenbleiben. Da fehlt mir einfach die Geduld. „Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist feiwillig“, sagte Susun Weed mal so passend.

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Sucht

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Das wöchentliche Giftspritzen

Von einem leitenden Angestellten einer kleinen Firma habe ich vor einigen Jahren gehört, daß alle Manager große Angst haben, weil sie letztendlich wissen, daß es mit der Wirtschaft so nicht weitergehen kann. Sicher gibt es auch viele Leute, die wissen, daß das rasante Ansteigen der Temperatur auf unserer Planetin uns und den anderen Arten Tod und Verderben bringen wird, möglicherweise sogar unter den Politikern (obwohl: denen traue ich am wenigsten Realitätsbezug zu. Wenn ich dann noch sehe, daß das Ministerium von Herrn Seehofer aus 100% Männern bzw. 0% Frauen besteht, erhärtet sich mein alter Verdacht, daß die Leute in der Regierung in einem Paralleluniversum leben). Daß die Flüchtlingswelle der letzten Jahre nur der Anfang ist und mehr als 100 Millionen Menschen auf der Flucht sein werden, wenn etwa Bangladesh klimabedingt zu großen Teilen ungefähr 7 m unter Wasser liegt, dürfte auch kein Geheimnis sein. Daß trotzdem so weiter gemacht wird wie bisher, erinnert an die typischen Kennzeichen von Sucht.

Der Alkoholiker, der Raucher und andere Süchtige wissen, daß sie sich langsam aber sicher umbringen oder sich zumindest irreversible Schäden zufügen. Sie alle haben diese kleine feine, manchmal auch laute und deutliche Stimme in sich, die sagt: Wenn du leben willst, kannst du nicht so weiter machen. Dennoch machen sie weiter, die allermeisten jedenfalls.

Ich weiß das, weil ich selbst über 20 Jahre starke Raucherin war und weil alkoholkranke Menschen mir das erzählt haben.

Daß die großen Agrarkonzerne, die heutzutage die Landwirtschaft dominieren, alles totspritzen, daß Jahr für Jahr mehr Humus verschwindet, dürfte denen auch bekannt sein. Der Mann im Trecker mit dem Giftanhänger hob gestern grüßend die Hand, als er mich im Garten sah. Er wird sagen, daß er seinen Job tut, den ihm ein Höherrangiger aufgetragen hat.

Der Unterschied zum Alkoholiker und Raucher ist, daß Politiker und die Manager von Agrar- und anderen Großkonzernen nicht nur sich selbst umbringen, sondern gleich Millionen von Arten, unsere eingeschlossen.

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Heute sah ich eine einzige Honigbiene mit Pollenhöschen im blühenden Flieder. Gestern freute ich mich über eine Hummel, die in die dicken Blüten des kleinen Quittenbäumchens kroch.

Ganz besonders freute ich mich über den Überraschungsbesuch von G. heute Vormittag.  Vor zwei Jahren hat er von mir zwei Schwärme bekommen. Er hatte von B. erfahren, daß meine Bienenvölker tot sind. Heute sagte er mir, daß ich von ihm ein neues Volk bekomme. Seine Bienen haben schon reichlich Weiselzellen gebaut, es gibt also neue Königinnen. Wahrscheinlich wiederhole ich mich, aber es gibt verdammt viele tolle Menschen unter den wesensgemäßen Imker*innen.

Noch was Erfreuliches: gestern war ich zusammen mit einer weiteren Sprachpatin bei einer afghanischen Familie in Selent zum Essen eingeladen. Sie bedankten sich auf diese Weise für unsere Fahrt zum Flüchtlingsrat. Das Essen war sehr lecker: Rind- und Hähnchenfleisch mit gemischtem Gemüse und Okraschoten, dazu Basmatireis mit getrockneten Berberitzen und als Getränk Ayran mit Pfefferminze. Die Stimmung bei Tisch war sehr angenehm. N. ist eine lebhafte, herzliche Frau, ihr Mann M. ein sehr ruhiger, freundlicher Mensch, der nach der Mahlzeit den Tisch abräumte und säuberte. Zum Abschied nahm er meine Hand in seine beiden, was sich gut anfühlte. Die jüngste Tochter spricht fast perfektes Deutsch, ist eine sehr gute Schülerin und für ihre 14 Jahre schon ziemlich erwachsen. Dann gibt es noch eine Tochter, die eher still war und die alte Mutter von N., die kaum Deutsch spricht, aber immer dabei ist. Ach, ich wünsche mir so sehr, daß sie hier bleiben können.

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Leben

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Durch die neue Oya bin ich auf die sehr interessante Website eines Arztes gestoßen: https://ganz-gesund-krank.de/

Es gibt da viel zu lesen. Einiges fand ich eher mühsam, wahrscheinlich fehlte mir einfach die Geduld. Anderes finde ich richtig großartig. Vieles deckt sich mit meinem eigenen Denken. Sehr lesenswert finde ich z. B. die Themen ganz gesund krank, Sterben und Tod, Impfen, Früherkennung und Vorsorge.

„Wir akzeptieren dein Kranksein nicht“ ist einer der Sätze, die einen starken Nachhall in mir erzeugt haben. Das ist z. B. die Haltung von Eltern, die alles Mögliche unternehmen, um ihr Kind bei Infekten mit Medikamenten, übrigens auch homöopathischen,  und anderen Maßnahmen zu behandeln.

Das Nichtakzeptieren von Krankheit und Tod hängt eng mit der weitverbreiteten Ideologie zusammen, daß wir Heilung bewirken können. Ich habe in meinem Leben immer wieder die Erfahrung gemacht, daß Heilung von selbst geschieht. Wir haben lediglich die Macht, Heilung durch Aktionismus – mit dem wir uns selbst Stress machen – zu verzögern. Z. B. die schwere Pankreatitis, die ich mit 28 Jahren bekam: weder die fettfreie Diät noch die Substituierung von Pankreasenzymen hat meine jahrelang erhöhten Amylase- und Lipasewerte in irgendeiner Weise beeinflusst. Dafür hat die Diät, die ich ohnehin nur einige Monate durchhielt, meine Lebensqualität stark gemindert. Acht Jahre nach der Erkrankung fanden sich bei einer erneuten Laboruntersuchung erstmalig meine Pankreasenzyme im grünen Bereich, obwohl – ich vermute eher weil – ich fröhlich aß, was mir schmeckte und worauf ich Appetit hatte.

Oder: ich hatte viele Jahre mit heftigen Migräneanfällen zu tun. Ich nahm auch einige Zeit Schmerzmittel, Ergotaminpräparate, die man mittlerweile gar nicht mehr bei Migräne verwendet, später Novalgin und Aspirin. Da ich eine generelle Aversion gegen jede Art von Medikamenten habe, hörte ich in der Mitte meiner 20er Jahre damit auf. Irgendwann fand ich heraus, daß  ich den Schmerz aushalten konnte, wenn ich mich hinlegte und gar nichts machte. Er war nicht weg, aber er fing dann an, sozusagen in meinem Kopf zu schmelzen. Ich kann es nur so ausdrücken. Das dauerte einige Zeit, aber irgendwann konnte ich einschlafen und wenn ich wieder wach wurde, war der Schmerz vorbei.  Im Rückblick glaube ich, daß die Migräne ein Geschenk des Lebens war, um mich für ein paar Stunden oder einen Tag aus meinem Dauerstress als voll berufstätige, im Schichtdienst tätige, alleinerziehende Mutter herauszunehmen. Ich habe schon jahrzehntelang keine Migräne mehr gehabt.

Wenn meine Kinder krank waren, habe ich ihnen ein Lager auf der Küchenbank gebaut, so daß sie die ganze Zeit in meiner Nähe waren. Ab und zu gab es was zu trinken, selten mal kalte Wadenwickel – ich halte Fieber ja für eine segensreiche Maßnahme des Körpers, die man nicht mit Medikamenten sabotieren sollte. Später, wenn es den Kindern anfing besser zu gehen und sie aus ihrem Dämmerzustand herauskamen, las ich ihnen Geschichten vor. Meine Tochter sagte mir neulich noch, sie hätte nur gute Erinnerungen ans Kranksein. Sie hat übrigens fast alle Kinderkrankheiten, gegen die heute hysterisch geimpft wird, einschließlich Masern durchgemacht und auf diese Weise ein starkes Immunssystem aufbauen können. Diese Chance haben Kinder heute, die nicht nur gegen alles geimpft werden, sondern auch noch das Pech hatten, per Kaiserschnitt ins Leben befördert zu werden, nicht mehr.

Auch die Grippeerkrankungen, die ich selbst alle zehn bis zwanzig Jahre einmal habe, sind mir in guter Erinnerung geblieben: 40° C Fieber, drei Tage Dämmerzustand, dann allmähliches Wiederauftauchen. Gerade diese fieberhaften Infektionen habe ich immer im Nachhinein als Transformationsprozesse auf allen Ebenen – körperlich und seelisch – erlebt.

Ich bin schon jahrelang nicht mehr zur Vorsorgeuntersuchung gegangen. Es reicht ja, sich Sorgen zu machen. Warum dann also noch vor-sorgen.

Ja, ich weiß: es gibt Krankheiten, für die es keine Heilung gibt, jedenfalls nicht in dem Sinne, daß die Krankheit verschwindet und das Leben wie gewohnt weitergeht. Da fällt mir Ute Schirans Satz ein: „Heilung kann auch Tod bedeuten.“ Da Tod ein Teil des Lebens ist und ich absolut sicher bin, daß es nicht das Ende sondern ein neuer Abschnitt im ewigen Tanz des Lebens ist, erscheint mir ihre Sichtweise sehr schlüssig.

Manchmal scheint es eine Art Stör- und Sabotageprogramm in uns zu geben, das der Heilung entgegen wirkt. Dann kann vielleicht ein Mensch, eine Pflanze, eine andere Maßnahme helfen. Aber können wir wirklich wissen, ob es diese Dinge sind, die geholfen haben?

Von Susun Weeds Six steps of healing finde ich den ersten den wichtigsten: Do nothing. Einfach dasein, ruhig werden, beobachten, was geschieht, ohne es in eine Diagnoseschublade zu stecken. So entsteht Raum für Selbstregulation.

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Die Obstbäume blühen dieses Jahr so üppig wie noch nie, aber es gibt keine einzige Biene!

 

Rat

 

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Alles ist so schön jetzt: der Mai zeigt sich mit seiner ganzen Fülle und im Garten wuchern die Beete zu, die ich noch nicht bearbeiten konnte. Wie jedes Jahr fehlt mir einfach die Zeit, all das zu machen, was ich gern möchte. Die Zeit, die Blütenpracht zu bewundern, den Schwalben bei ihren schnellen Flügen zuzusehen und mich an ihrem Zwitschern zu freuen, die nehme ich mir allemal.

Mir gefällt Luisa Francias Blogbeitrag vom 7.5. zum Thema Werte, die Minister Dobrindt den Flüchtlingskindern vermitteln möchte, sehr gut: http://www.salamandra.de/tagebuch/start.php

Überhaupt: was sind denn Werte? Ich bezweifle, daß z. B. geflüchtete Menschen aus islamischen Ländern grundsätzlich andere Werte haben als Europäer. Ich lese gerade das Buch Das wiedergefundene Licht von Jacques Lusseyran, der als Achtjähriger erblindete, als Gymnasiast während der Besatzung Frankreichs durch die Nazis Angehöriger der Résistance wurde und mit neunzehn Jahren ins KZ Buchenwald deportiert wurde. Er hat es überlebt und beschreibt sein Leben bis zu diesem Zeitpunkt. Er schreibt sehr reflektiert und es wird deutlich, daß er kein Nationalist ist, sondern daß sein Antrieb, der Naziherrschaft Widerstand entgegenzusetzen, aus der erschreckenden Erkenntnis stammt, daß der Nationalsozialismus eine Seuche ist, deren Verbreitung gestoppt werden muss. Seine persönlichen Werte sind nichts von außen Kommendes sondern entstehen aus seinen Erfahrungen heraus. Und da sie aus der Tiefe seines Seins stammen, diesem Ort, den – so bin ich überzeugt – jeder und jede in sich hat und an dem wir unsere persönliche Wahrheit erfahren, hat er auch die Kraft, diese Wahrheit zu leben.

Das ist etwas ganz anderes als die vermeintlichen Werte des Herrn Dobrindt, die christlichen Kreuze des Herrn Söder und das „Heimatmuseum“ des Herrn Seehofer. Übrigens: wenn jetzt wieder Kruzifixe in den bayrischen öffentlichen Einrichtungen aufgehängt  werden, dann müssen konsequenterweise auch andere religiöse Symbole legitim sein, z. B. das umstrittene Kopftuch muslimischer Frauen. Gleiches Recht für alle – das wäre auch ein Wert.

Gestern fuhr ich mit drei anderen Flüchtlingshelfer*innen nach Kiel zum Flüchtlingsrat. Wir wollten uns eigentlich Unterstützung für eine öffentlichkeitswirksame Aktion wegen der negativen Asylbescheide für einige Familien in Selent holen. Wir hatten auch die kopierten Bescheide und Protokolle der Anhörungen mitgenommen – mit dem Einverständnis der Betroffenen. Ein sehr kompetenter junger Mann nahm sich zwei Stunden Zeit für unser Anliegen und erwies sich wirklich als guter Ratgeber. Er bestätigte meinen Verdacht, daß seit der letzten Bundestagswahl die CDU die Politik der AfD macht und deshalb seitdem kaum ein Mensch aus Afghanistan mehr einen positiven Bescheid bekommt. Dennoch haben unsere afghanischen Familien sehr gute Chancen mit ihren Widersprüchen durchzukommen. Jedenfall fuhren wir richtig fröhlich wieder nach Hause und werden in den nächsten Tagen den Betroffenen die gute Nachricht überbringen.

Jacques Lusseyran beschreibt in seinem Buch auch, wie die deutschen Besatzer mit den Franzosen umgegangen sind. Ich habe mich früher bei meinen vielen Frankreichurlauben oft geärgert, wenn ich mitbekam, daß man mich als „boche“ bezeichnete. Aber mittlerweile kann ich ein wenig den Zorn der Franzosen auf die Deutschen verstehen.

Stolz auf meine Nationalität ist mir sowas von fremd. Aber als im Sommer 2015 die große Flüchtlingswelle nach Deutschland schwappte und ich diese große und völlig überraschende Hilfsbereitschaft erlebte, da konnte ich zum ersten Mal in meinem Leben so etwas wie Einverstandensein mit meiner Nationalität fühlen. Und ich finde, wenn wir etwas aus unserer Nazivergangenheit lernen können, dann ist es die Einsicht in die Notwendigkeit, Menschen zu helfen, die in ihren Ländern nicht mehr leben können, weil sie von Tod und Verderben bedroht sind.

Na immerhin hat das Land Schleswig-Holstein erklärt, daß es bei den Ankerzentren von Herrn Seehofer nicht mitmachen wird. Das ist schon mal eine gute Nachricht.

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Frauen und Männer

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Folgenden Link zur MeToo-Debatte habe ich von meiner Tochter bekommen. Ich finde den Artikel gut: https://www.freitag.de/autoren/simone-schmollack/zeigt-potenz

Seit die MeToo-Debatte in Gang ist,  höre und lese ich, daß Männer sich sehr verunsichert fühlen und gar nicht mehr wissen, wie sie sich Frauen gegenüber verhalten sollen. Nun finde ich Verunsicherung erst mal gar nicht schlecht. In diesem Fall zeigt sie, daß alte Selbstverständlichkeiten im Umgang mit Frauen ausgedient haben und neue noch nicht in Sicht sind. Und da gebe ich der Autorin dieses Artikels recht: was Männer und Frauen für selbstverständlich halten, sollten sie miteinander besprechen. Überhaupt scheint dieses Miteinandersprechen oft zu fehlen. Stattdessen wird übereinander gesprochen. Das mag erst mal eine Entlastung sein, auf lange Sicht ändert sich dadurch aber gar nichts.

Trotz sexueller Revolution ist das Thema Sexualität immer noch problematisch. Neulich fand ich auf der Station eine alte Brigitte (diese Zeitschrift gehört normalerweise nicht zu meinen favorisierten Lesestoffen), in der es auch um MeToo ging. Eine Sexualtherapeutin äußerte sich zu dem bekannten Phänomen, daß in langjährigen Beziehungen Frauen meistens das Interesse an Sexualität verlieren, während die Männer unter ihrem Mangel leiden.

Ich kenne dieses Phänomen auch. Früher gehörte es zu den ehelichen Pflichten, seinem Mann zur Verfügung zu stehen, wenn ihm danach war. Ich weiß von einigen Frauen, die ihren Männern zu Willen waren, ob sie Lust hatten oder nicht. Das ist natürlich der sichere Tod von lustvoller Sexualität.

Ich habe Männer erlebt, die fanden, ich müsse es wenigstens probieren, auch wenn ich keine Lust hatte. Der Appetit käme beim Essen. Nun käme ich allerdings nicht auf die Idee ohne Appetit zu essen und wenn ich keine Lust habe, will ich selbstverständlich auch nichts probieren.

Vielleicht ist es auch normal, daß in längeren Beziehungen das sexuelle Feuer nicht mehr lichterloh brennt. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber sicher, daß ich mit Lustlosigkeit auf unterschwellige Forderungen reagiere. Ganz große Lustkiller sind Stress und Streit. Und Stress haben die meisten berufstätigen Mütter, zumal wenn ihre Männer sich nicht zuständig für Haushalt und Kinderbetreuung fühlen.

Umgekehrt habe ich erfahren, daß im Urlaub, ohne Alltagsverpflichtungen, Schlafmangel und Hetze, plötzlich die Lust und das Begehren zurückkamen.

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