Eigentlich sollte am Montag meine Augenoperation stattfinden. Ich stand schon vor der Glaswand des OP und erkundigte mich sicherheitshalber, ob ich die bifokale Linse eingesetzt bekäme, die ich mir ausgesucht hatte. Der Frau, die am PC saß, fiel alles aus dem Gesicht. Nein, davon wisse man nichts und überhaupt seien dafür spezielle Untersuchungen erforderlich. Nun muss ich dazu sagen, daß ich Wochen vorher in der Klinik angerufen hatte, um zu klären, welche Linse ich haben wollte, ob dafür zusätzliche Untersuchungen gemacht werden müssten und ob ich dazu zahlen müsste. Keine dieser Fragen wurde, so stellte es sich jetzt heraus, richtig beantwortet. Weil ich aber ein komisches Gefühl hatte, habe ich noch mal gefragt. Ein Glück, da ich sonst jetzt eine Linse im Auge hätte, die ich auf keinen Fall wollte. Immerhin glaubte man mir und später hörte ich, wie man die Person, die mir eine falsche Auskunft gegeben hatte, zur Rechenschaft zog. Ich hatte noch ein Gespräch mit dem Arzt, hörte mir viele Entschuldigungen an, durchlief etliche Untersuchungen an komischen Geräten und habe den nächsten OP-Termin in zwei Wochen.
Ich haderte nicht lange mit dieser Sache. Wer weiß, wozu das Ganze gut ist. Jetzt kann ich mich noch mal in Ruhe mit meinen Augen unterhalten. Die meisten Menschen in meinem Umfeld haben mir Mut gemacht. Einige haben von ihren erfolgreichen Kataraktoperationen erzählt. Nur einer hat mir ganz klar gesagt: „Ich würde mich nicht operieren lassen.“ Das hat mich beschäftigt, weil es meine eigenen Vorbehalte berührt, nämlich gegenüber der Schulmedizin. Ich weiß, daß für diesen Eingriff ein volles JA erforderlich ist, damit alles gut verlaufen kann. Ich würde so gern auf diese OP verzichten. Aber in den elf Wochen seit ich weiß, daß ich Grauen Star habe, hat sich mein Sehen verschlechtert. Ich habe einiges unternommen: zwei enegetische Behandlungen, Schachtelhalmabkochungen und -augentropfen, Schüsslersalze, Reiki und Heilmeditation- nichts hat irgendeine Besserung bewirkt. Ich sehe die Welt mittlerweile als impressionistisches bewegtes Bild. Menschliche Gesichter erkenne ich nur verschwommen; so habe ich neulich K. auf dem Markt nicht erkannt. Straßenschilder kann ich nur mit Mühe entziffern. Diese schnell voranschreitende Verschlechterung macht mir Angst.
Vor etwa zwanzig Jahren habe ich angefangen, Augenübungen zu machen, um meine beginnende Weitsichtigkeit zu korrigieren. Meine Disziplin hat sich gelohnt: erst mit 59 Jahren kaufte ich mir meine erste Lesebrille. Die funktioniert übrigens heute noch, allerdings nicht mehr so gut. Gegen Grauen Star habe ich keine Übungen gefunden, er war aber auch all die Jahre kein Thema für mich.
Wenn mir also jemand sagt, er würde sich nicht operieren lassen, denke ich daran, daß auch ich in der Vergangenheit solche forschen Sprüche rausgehauen oder sie zumindest gedacht habe. Ich bin mittlerweile etwas zurückhaltender. Weiß ich denn, wie ich mich verhalten würde? Vor einigen Jahren hat mir eine Frau ihre Leidensgeschichte mit einem metastasierenden Krebs erzählt: sie hatte eine ultraharte Chemotherapie gemacht und wusste nicht, ob sie die Folgen überleben würde. Sie war noch eine relativ junge Frau. „Wenn du ein Kind hast, dann sieht es alles ganz anders aus,“ sagte sie zu mir und ich verstand es so, daß sie sich ohne ihren kleinen Sohn gegen diese quälende Behandlung entschieden hätte.
Das kleine Quittenbäumchen im Garten hat gut getragen und ich habe Marmelade gekocht. Dann bin ich in den Wald gegangen und habe einen neuen Platz mit schönen alten Eichen gefunden. Auf dem Rückweg fand ich eine gefällte Birke und zog die lose Rinde ab. Ich nehme sie zum Feueranmachen, wenn der Ofen nicht gut zieht. Als ich mich umschaute, entdeckte ich eine Damhirschschaufel am Boden und freute mich, weil ich schon immer mal eins dieser abgeworfenen Geweihe finden wollte. Als ich näher ging, sah ich in den leeren Augenhöhlen eines im Verwesungsprozess befindlichen Damhirsches. Die Pforten zur Anderswelt sind immer direkt nebenan. Wohin gehen überhaupt die Seelen der anderen Tiere? Werde ich sie treffen, wenn ich eines Tages in die andere Welt gehe? Ich hoffe es.
Heute kam per Telegram ein kleiner Film zu mir, in dem die schöne Geschichte von den Imagozellen, die im Raupenkokon den Schmetterling erträumen, erzählt wurde. Ich habe sie das erste Mal vor vielen Jahren von Nicanor Perlas, einem phillipinischen Umweltaktivisten und Politiker gelesen. Er hat sie als Analogie für die heutigen Zeiten erzählt. Sie ist sehr schön und ermutigend. In dem kleinen Film wird herausgestellt, daß es nicht darum geht, Widerstand gegen die Kräfte zu leisten, die die Metamorphose zum Schmetterling verhindern wollen. Stattdessen sollen Cluster aus dem Imagozellen gebildet werden, die das Neue erträumen. Vernetzt euch, bildet Kreise – das höre ich in den letzten zweieinhalb Jahren so oft. Und genau das mache ich und finde immer wieder neue Menschen. Es gibt aber auch Menschen, mit denen ich nicht mehr gern zusammen bin und sie wohl auch nicht mit mir. Alles ist in Bewegung und wir wissen nicht wohin es geht.
Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich einen kleinen Walnussbaum in unseren Garten in Ostholstein gepflanzt. Jetzt trägt er endlich Früchte und J. hat sie für mich geerntet. Auch mein eigener Garten hat mir eine Fülle an Früchten und Gemüse geschenkt. Mehr denn je erfahre ich, was saisonales und regionales Essen bedeutet. Zur Zeit probiere ich alle möglichen Zubereitungsformen von Äpfeln aus.