Der Norden

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Samengrab auf dem Friedhof von Ammarnäs

Ganz allmählich komme ich wieder in meinem Dorf und meinem Leben in Deutschland an. Ich hatte nur einen Tag frei zwischen meiner Ankunft und dem ersten Arbeitstag, eigentlich zu wenig. Ich denke viel an Lappland und möchte da gern wieder hin, noch weiter in den Norden. Wir haben nur die Taiga, also den Fichten- und Birkenwald kennengelernt. Mich reizt die Tundra, wo Permafrost herrscht und wo die Rentiere im Sommer leben, wenn sie vor den Mücken fliehen.

In Ammarnäs hatten wir eine schöne Begegnung mit einem Schweden, der ein Hüttendorf verwaltet. Er kam auf uns zu, als wir das Auto auf einem Parkplatz an den Hütten abgestellt hatten. Ich fragte ihn, ob er Geld fürs Parken von uns haben wollte, weil ich das auf den angebrachten Schildern gelesen hatte. Er sagte, Leute, die fragen, müssen nichts bezahlen. Das gefiel mir schon mal. Dann fragte ich ihn, ob wir die Skulpturen in einer der Hütten ansehen dürften. Da stand nämlich ganz groß Skulpturum dran.  Ja, das dürften wir, sagte er, und wir könnten uns auch deutsch unterhalten. Wie viele Schweden sprach er recht gut deutsch. Er schloss uns die Hütte auf: alles war voller Skulpturen, über die er uns sehr viel erzählte. Die Künstlerin lebt dort nicht mehr, sie ist sehr krank, aber sie war wohl mal sehr bekannt. Offensichtlich kannte er sie sehr gut; so wie er über sie redete, waren sie vielleicht sogar mal ein Paar. Sie heißt Marita Norin. Nicht alle ihrer Kunstwerke gefielen mir, aber es waren einige dabei, die mich extrem ansprachen. Es gab ein paar Skulpturen von Paaren, die Sex miteinander hatten. Das war in großer Deutlichkeit abgebildet, gleichzeitig von einer solchen Heiterkeit und Gelöstheit, daß es mir richtig ans Herz ging. Ich habe mich in der Vergangenheit nie wohl gefühlt mit den Pornos, die ich bei Männern gesehen habe und habe oft darüber nachgedacht, welche Art von Pornografie mich anmachen und erfreuen könnte. Ich glaube, Marita Norin hätte den richtigen Ansatz dafür.

Wir fragten dann, wo in Ammarnäs wir einen Kaffee und ein Stück Kuchen bekommen könnten. „Ich habe Kuchen“, sagte unser Begleiter, „und ich mache euch Kaffee.“ Er führte uns in ein schönes rundes Holzhaus mit zwei Ebenen, das eine Art Gemeinschaftshaus ist. Auch dort standen lauter Skulpturen von Marita Norin, auch Entwürfe für Medaillen. Eine bildete Pippi Langstrumpf ab. Er fragte, ob wir sie kennen. „Jedes Kind in Deutschland kennt Pippi Langstrumpf“, antwortete ich. Wir bekamen Kaffee und Kekse und unterhielten uns. Das war eine schöne und einfache Begegnung.

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Samenflagge auf dem Friedhof von Ammarnäs

Die Belgierin, mit der ich mich im Wandererheim in Jokkmokk unterhielt, sagte, immer wenn sie in Lappland sei, fühlte sich das Leben so einfach an. Sie wolle dieses Gefühl festhalten, aber wenn sie zu Hause sei, ginge das nicht mehr. Das kenne ich gut. Ich hatte es zum ersten Mal auf einem Campingplatz in La Ciotat an der Cote azur in Frankreich: Essen kochen auf dem Gaskocher, Wäsche im Spülstein mit Kernseife und einer Wurzelbürste waschen, ansonsten Sonne, Meer, Entspannung. Solche Urlaube machen mich offen für neue Erfahrungen. Zu Hause lege ich dann wieder ganz automatisch meine Schutzschilde an. Wahrscheinlich muss das auch so sein, besonders wenn eine in der Stadt wohnt. Ich glaube, ich käme nicht klar, wenn ich alle Gefühle und Vibrationen, die durch Straßen und öffentliche Gebäude wabern, aufnehmen würde, ganz zu schweigen vom Autoverkehr und Benzingestank.

Heute sah ich den Bienen zu, die mit Pollenhöschen nach Hause kamen, sich auf dem Flugbrett mit ihren Köpfchen anstupsten und leise und friedlich summten. Die erste Herbstzeitlosenblüte schaute aus der Wiese und auch der Himmel wirkte schon leicht herbstlich. Ich fühlte mich ganz wohl und einverstanden mit dem Leben.

Übrigens haben I. und ich die lange Reise ganz ohne Navi gemacht und haben uns nur einmal in Oslo ganz kurz verfahren, nachdem wir von der Fähre kamen. Ich sage das, weil Navis in meinem Freundes- und Bekanntenkreis mittlerweile als absolut unentbehrlich gelten. Ich will aus zwei Gründen kein Navi: erstens möchte ich mich nicht von einem Gerät abhängig machen, sondern weiterhin meine Sinne benutzen, um mich in der Welt zurecht zu finden. Zweitens wird für die Herstellung von Navis ebenso wie von Handys Coltan gebraucht und dafür wird der Kongo aufs Übelste ausgebeutet und ökologisch vernichtet.

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