Sehnsucht und Angst

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Diese Fotos hat mir mein Schwiegersohn geschickt. Sie sind jeweils vom Juli 2017 und 2018 und zeigen Katharina und mich beim Abstieg vom Steinkopf in der Rhön. Man kann deutlich die Auswirkungen der Dürre sehen. Die gab es übrigens sogar in Lappland, wenn auch für uns nicht zu erkennen. Eine Verkäuferin in Jokkmokk erzählte, man habe den Rauch der brennenden Wälder bis in den Ort gerochen. Auch sie war froh über den mittlerweile einsetzenden Regen.

Warum interessieren sich soviel Menschen – ich zähle mich dazu – für Indianer oder andere indigene Kulturen? Ich glaube, es ist in unsere DNA eingeschrieben, daß wir auch einmal in engster Verbindung mit der Natur gelebt haben und uns als Teil des Großen Ganzen gefühlt haben. Dahin scheint die Sehnsucht vieler Menschen zu gehen, möglicherweise nicht bewusst. Die Zeit der Jäger*innen- und Sammler*innen war die Zeit vor dem Beginn der Kultivierung der Erde, der sogenannten neolithischen Revolution, die in meinen Augen der wahre Sündenfall war. Auch wir waren mal Indigene: in unseren Genen finden sich Spuren der europäischen Urbevölkerung ebenso wie die der eingewanderten Kriegerstämme aus der asiatischen Steppe, die Kelten und Germanen genannt werden. Die ältesten Urvölker in Europa sind die Basken und die Samen, erstere sollen von den Cro Magnon-Menschen abstammen, die z. B. das Dordogne- und Vézère-Tal in Frankreich bewohnt haben. Manche Skeptiker sagen gern, daß die Jäger*innen und Sammler*innen nicht sehr alt geworden seien, ein hartes Leben gehabt haben und alle Sehnsucht nach der alten Zeit nichts weiter als romantische Spinnereien seien. Was das Alter angeht: was ist gegen ein Lebensalter von 30 oder 40 Jahren einzuwenden, wenn es ein erfülltes Leben ist? Umgekehrt: was ist gut an einem Leben von 90 Jahren, wenn es durch die zweifelhaften Segnungen der modernen Medizin künstlich verlängert wurde und in einem Pflegeheim endet? Und was die Härte angeht: an den noch existierenden Urvölkern kann man sehen, daß sie etwas haben, was uns völlig abgeht: massenweise Zeit. Und daß sie diese Zeit nutzen, um das Leben zu genießen.

Überhaupt ist es ja ein Irrglaube, daß die modernen Menschen mehr Zeit als unsere Vorfahren haben: wir arbeiten nach wie vor acht Stunden am Tag, versuchen in der verbliebenen Zeit unseren Kindern, unserem Haushalt und unseren sonstigen Verpflichtungen gerecht zu werden. Ich finde z. B., daß die elektronischen Medien sehr viel Zeit verschlingen: ständig muss irgendwas aktualisiert, gesichert, gespeichert, abgerufen etc. werden. Die Wege zur Arbeit sind für viele länger geworden und alles in allem ist das Leben in den letzten 40 Jahren nicht unkomplizierter geworden.

Als ich heute bei den Bienen saß, kam mir in den Sinn, daß das Zeithaben eine wesentliche Voraussetzung für mystische Erfahrungen ist. Das Erleben von Einheit mit den anderen Wirklichkeitsebenen setzt Muße und einen erwartungsfreien Geist voraus. Neulich las ich, daß die Menschen unseres Kulturkreises noch bis zur Reformation relativ wenig gearbeitet und viel freie Zeit gehabt haben. Das wurde dann durch Martin Luther und die anderen Reformatoren beendet: da galt nur ein arbeitsames Leben als gottgefällig: Muße ist aller Laster Anfang, wird gesagt. Auch eine Methode, Menschen daran zu hindern, ihre eigenen spirituellen Erfahrungen zu machen und sie stattdessen abhängig vom spirituellen Spezialisten, dem Pfarrer zu machen. Ich brauche jedenfalls meine täglichen Traumzeiten, in denen ich nichts tue und nur rumsitze und in die Landschaft schaue.

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Die Ereignisse in Chemnitz und die unerträglichen Äußerungen unseres Innenministers zum Thema Geflüchtete lässt mich annehmen, daß nicht nur die Sehnsucht sondern auch die Angst in unserer DNA gespeichert ist. Fremdenfeindlichkeit geht möglicherweise darauf zurück, daß es tief in uns Erinnerungsspuren aus der Zeit gibt, in der unsere Urahnen aus Asien geflohen sind – vielleicht hat der Hunger sie vertrieben – und sich mit mehr oder weniger Gewalt das Land angeeignet und die Urbevölkerung verdrängt haben. Ebenso mögen sich Erinnerungsspuren an die Gewalt finden, die der Urbevölkerung angetan wurde. Von beiden stammen wir ab. Und nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter tragen Erinnerungen mit sich herum, die als latentes Gift wirken, solange sie nicht bearbeitet und erlöst werden. Ein ehemaliger Kollege, der lange vor der Flüchtlingswelle seinen immensen Hass auf türkische Mitbürger äußerte, antwortete auf meine Frage, was er denn für ein Problem habe: „Die nehmen uns die Frauen weg.“ Das ist keine reale Erfahrung von heute und schon gar nicht seine (seine eigene Frau war nicht wegen eines Türken gegangen sondern wegen des Alkoholismus ihres Mannes).

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