Spaziergang

Diese Farnwedel aus Eis entdeckte ich gestern Morgen auf meiner Windschutzscheibe. Ich fühlte mich an meine Kindheit erinnert: Wir hatten in den 50er Jahren schon eine Zentralheizung in unserer Wohnung in Hannover. Das Wasser in den Heizkörpern wurde durch einen Kohleofen in der Küche erwärmt, den meine Eltern mit Koks fütterten. Nachts ging das Feuer dann aus und nach frostigen Winternächten, von denen es damals noch viel mehr gab als heute, waren die Fenster morgens mit wunderschönen Eisblumen bewachsen, in die wir Löcher zum Durchschauen hauchten. Was für faszinierende Muster die Natur schafft!

Am Donnerstagabend waren B. und ich in Kiel zum Spaziergang. Als ich mein Auto am Exerzierplatz abstellte, erschreckte mich die große Anzahl an Polizeimannschaftswagen und die vielen mit Helmen ausgestatteten Polizisten. Das wirkte schon ein wenig bedrohlich. Die Initiatorin der Kieler Spaziergänge lobte gleich zu Anfang die Polizei für ihr faires Verhalten und forderte uns auf, ihnen Beifall zu geben. Ich bin nicht mehr so grundsätzlich wie früher gegen die Polizei und habe sie in meinen Berufsjahren auf der geschlossenen Aufnahmestation in der Psychiatrie ab und zu in Anspruch genommen. Dabei habe ich sie oft als hilfsbereit, manchmal sogar regelrecht fürsorglich wahrgenommen. Klar, es gibt auch unangenehme, die ihre Machtgelüste ausleben. Aber am Donnerstagabend war mir nach friedlicher Koexistenz und schließlich sperrte die Kieler Polizei die Straßen, damit wir da gemütlich spazierengehen konnten.

Und das taten wir: sehr viele Menschen trotz des anhaltenden Nieselregens, mit vielfältigen Lichtern behängt, mit Lichterketten verzierte Schirme und andere phantasievolle Beleuchtungen. Ich hatte meine kleine Solarsonne um den Hals hängen. B. fand allerdings, daß sie blendete, obwohl ich sie runtergedimmt hatte. Wir gingen etwa eineinhalb Stunden durch die Stadt: Möllingstraße – Eckernförder Straße – Westring – Gutenbergstraße – Eckernförder Straße – Westring – Hasseldieksdammer Weg – Kronshagener Weg – Exerzierplatz. Immer begleitet von der Polizei. Es herrschte eine wohlig friedliche Stimmung. Nur ab und zu veranstalteten Antifa-Grüppchen am Straßenrand kleine Störfeuer. Sie trugen Pappplakate mit Aufschriften wie „Nazis raus“ und „Antisemiten“ und schrieen uns an: „Nazis raus, Nazis raus“. Ich kann über diese Menschen nur staunen und wünschte, ich könnte mich mit ihnen mal in Ruhe unterhalten. Ich wüsste wirklich gern, warum sie uns für Nazis halten. Übrigens fiel mir auf, daß die Polizei die Gegendemonstranten im Halbkreis abschirmte, als wollten sie uns vor ihnen beschützen. Irgendwie hat mich dieser Anblick gerührt.

Wenn die Antifa-Leute mit ihrem Geschrei anfingen, riefen viele unserer Mitspaziergänger ihrerseits „Nazis raus“. Das war wohl als Spiegelung gemeint und irgendwie ist es ja auch tatsächlich so, daß diejenigen, die uns so hart anschrieen, genau das taten, was man den Nazis zu Recht vorwirft, nämlich keine andere Meinung zuzulassen. Dennoch gefiel mir das nicht. Ich denke über andere Möglichkeiten nach. Vielleicht wäre Schweigen besser. Hier zeigt sich, was auch in den Mainstreammedien mit konstanter Boshaftigkeit verbreitet wird: alle, die sich kritisch gegenüber den Coronamaßnahmen äußern, sind Rechte. Verrückte Welt! Es mag ja sogar sein, daß der eine oder die andere Rechte auf den Spaziergängen dabei ist. Ich habe als überzeugte Anarchistin keinen Vertrag mit rechtem Gedankengut und Nationalismus ist mir schon immer fremd gewesen. Aber ich möchte mit allen reden können und glaube nicht, daß Ausgrenzung irgendwas besser macht, im Gegenteil. Mich interessiert der Mensch hinter der Gesinnung und warum und wie er oder sie zu eben dieser Gesinnung gekommen ist. Ich denke oft an die Erzählungen meines Vaters, der als Kind mitbekommen hat, wie sich auf den Straßen von Hannover die Kommunisten mit den SA-Leuten prügelten. Hat es genützt? Hat es Hitler und die Jahre des Nationalsozialismus verhindert? Wir müssen heute Wege finden, um die zunehmende Spaltung zu heilen. Denn diese Spaltung nützt nur denen, die uns beherrschen. Und wir müssen erkennen, wo der wirkliche Feind, die wirkliche Bedrohung sitzt. Der moderne Totalitarismus kommt nicht von den Rändern, sondern aus der Mitte.

Als wir uns wieder dem Exer näherten, klang aus den Lautsprechern die alte Pink Floyd-Hymne Another Brick in the Wall, die ich so liebe und die immer noch so zutreffend ist:

„We don‘t need no education

We don‘t need no thought control

No dark sarcasm in the classroom

Teachers leave them kids alone

Hey, teachers leave them kids alone

All in all it‘s just another brick in the wall

All in all, you‘re just another brick in the wall.“

Wir brauchen keinen Unterricht

Wir brauchen keine Gedankenkontrolle

Keinen finsteren Sarkasmus im Klassenraum

Lehrer, lasst diese Kinder in Ruhe

Hey Lehrer, lasst diese Kinder in Ruhe

Alles in allem ist das nur ein weiterer Backstein in der Mauer

Alles in allem bist du nur ein weiterer Backstein in der Mauer.

Gestern Abend haben wir zu viert ein schönes Lichtmessritual gefeiert. Das Feuer, für das ich alles schon im Garten vorbereitet hatte, fiel buchstäblich ins Wasser. Also räumten wir Tisch und Sessel im Wohnzimmer beiseite und sangen und tanzten. Danach gab es gutes Essen und gute Gespräche. Seit gestern bin ich wieder in richtiger Tanzlaune. Das ist schön. Und der Lichtmessimpuls zeigte sich dann heute in zwei sehr erfreulichen Mails von Menschen, die diesen Blog gern lesen. Es war, als sei gestern ein heller Funke in die Welt geflogen.

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