Auf dem Weg nach Berlin las ich am Donnerstag in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel, in dem erwähnt wurde, daß vor ungefähr 5000 Jahren Junggesellentrupps aus dem Osten ins heutige Mitteleuropa einfielen und die hier ansässigen Frauen der Urbevölkerung vergewaltigten. Wir sind die Nachkommen. Das Bemerkenswerte an dieser Aussage ist, daß mit ihr mittlerweile etwas seit etlichen Jahrzehnten mehr oder minder verächtlich Abgetanes in die Mainstream-Medien kommt. Anfang der 80er Jahre hat die Archäologin Marija Gimbutas schon zur Kultur des Alten Europa geforscht und veröffentlicht (Gods and Goddesses of Old Europe) und in dem Zusammenhang auch von den Kurgan-Völkern berichtet, die aus der asiatischen Steppe kamen und der matriarchalen Urbevölkerung ihr patriarchales System aufgezwungen haben. Man findet Überreste davon in der germanischen Mythologie wieder, wenn von den Asen und den Wanen die Rede ist: die Wanen waren die alten Götter, z. B. Freya, die Nornen, die Zwerge, die Asen waren diejenigen, die aus Asien kamen und sich kriegerisch und ziemlich ungehobelt benahmen, z. B. Thor, aber auch Odin.
Wenn ich vor einigen Jahren noch anderen Menschen erzählte, daß es die längste Zeit der menschlichen Evolution weder Krieg noch Herrschaft gegeben hat, stattdessen menschliche Gemeinschaften matriarchal organisiert waren, kam mir in der Regel eine Welle von Abwehr entgegen: Nein, Krieg hat es immer gegeben und die Männer haben immer an der Spitze der Gesellschaft gestanden. Da war kein weiteres Gespräch möglich. Warum dieses hartnäckige Festhalten an einer doch eigentlich sehr trostlosen Weltsicht, darüber kann ich nur spekulieren. Ich möchte übrigens in diesem Kontext noch mal sagen, daß Matriarchat nicht Frauenherrschaft bedeutet sondern Am Anfang die Mutter. Das griechische arché heißt Anfang, deshalb heißt die Erforschung der frühen Geschichte der Menschheit ja auch Archäologie. Die alten Gesellschaften waren um die Stammesmutter zentriert. Herrschaft hingegen ist eine relativ neue Erfindung. Das Patriarchat hat den Vater an den Anfang gesetzt und das spiegelt sich auch in den monotheistischen Religionen: Vater, Sohn und heiliger Geist – drei männliche Gestalten. Eine Mutter hat in dieser elitären Versammlung nichts mehr verloren.
Bei Ilan Stephani ging es dann sehr körperlich zu: Körperarbeit, um die kollektiven Traumatisierungen des Patriarchats zu heilen. Ilan hält Menschen für grundsätzlich gut. Auf die Frage, wie dann das Böse, das Destruktive in die Welt kam, führte sie die Saharasia-Theorie von James DeMeo an: die Entstehung von ausgedehnten Wüsten in Afrika und Asien habe zu Hungersnöten und Massenfluchten geführt. Das Erleben von lebensbedrohlichem Mangel habe zu einer tiefen Traumatisierung geführt, die Menschen gewalttätig gemacht habe.
James DeMeos Saharasia-Hyptothese diente mir lange als Erklärung für den destruktiven Weg des größten Teils der Menschheit. Ich bin mir da mittlerweile gar nicht mehr so sicher. Wie kommt es dann, daß es indigene Völker gibt, die mit der Wüste leben können, z. B. die Tuareg und die Kabylen? Ich glaube, es gibt keine einfache Antwort auf diese Frage, vielleicht auch gar keine.
Wie auch immer: das Seminar war toll. Ja, alles ist im Körper, und aus ihm kommt auch unsere Freiheit. Wenn wir die kollektiven Traumata in unseren Körperzellen gespeichert haben, dann finden sich dort ebenso die Erinnerungen an die älteren Zeiten der Einheit mit der Natur, der Freiheit, der Instinkte. Um diese abzurufen, ist es notwendig, Tabus zu brechen – Tabus, die eingerichtet wurden, um uns klein zu halten.
Die Vorstellung, mich als Tabubrecherin zu betätigen, macht mir richtig Spaß. Ich habe damit im Laufe meines Lebens ja schon einige Übung gesammelt.