Am Donnerstag fuhr ich ein zweites Mal nach Lübeck, um an David Seven Deers Feuer im Innenhof des Doms zu sitzen. Ich war früh da und kaufte im Museumsshop eins der Bücher von David: Heelahs Traum. Es ist ein Buch für Kinder, aber wie wohl die meisten Kinderbücher auch für Erwachsene geeignet. Mit dem Buch in der Hand ging ich zu dem Platz, wo David seit einem halben Jahr an seinem Spirit Canoe arbeitet. „You want me to sign the book?“ fragte er und schrieb mir dann eine Widmung hinein, in der Sprache seines Volkes und auf Englisch. Er sprach die indianischen Worte laut aus und ließ sie mich wiederholen. Später, als ich einen Kaffee im Café im Innenhof trank, kam er zu mir und lud mich ein zum Feuer zu kommen, das er gerade angezündet hatte. Nach und nach kamen Menschen, viel mehr als bei meinem letzten Besuch. Ich kam mit den beiden Frauen ins Gespräch, die neben mir auf der Bank saßen. Beide waren regelmäßig hierher gekommen und sprachen mit großer Achtung über David Seven Deers. Eine von ihnen sagte: „Es ist ein Geschenk, was er hier macht.“ Da konnte ich ihr aus vollem Herzen zustimmen.
Als das Sechs-Uhr-Geläut abgeklungen war, sprach David eine Begrüßung in seiner Sprache und übersetzte sie dann: er habe das Feuer begrüßt und alle Anwesenden. Dies sei der letzte Abend am Feuer. Die Abendsonne vergoldete die Mauern des Doms. Eine Frau ging auf Bitte von David mit der großen Muschelschale mit glimmendem Salbei herum und jeder fächelte den aromatischen Rauch zu sich hin. Eine andere Frau hatte die Aufgabe der Feuerhüterin und legte ab und zu achtsam Holzscheite nach. David überließ seinen Platz einer weiteren Frau, die uns eine lange Geschichte aus seinem Buch Reisende Mutter vorlas. In der einsetzenden Dämmerung sammelten sich Krähen auf dem Seitentrakt des Doms, Fledermäuse flogen über uns. Es war so schön am Feuer zu sitzen und der Geschichte zuzuhören. Als die Vorleserin geendet hatte, fingen einige an zu klatschen, aber David stoppte das mit einer Handbewegung: „No clapping.“ Er sagte auch auf Deutsch, wir sollten jetzt nicht quatschen und das fand ich einleuchtend: jedes Gerede hätte diese schöne dichte Energie, die in der letzten Stunde entstanden war, zerstört. Allmählich löste sich die Versammlung auf. Ich ging noch einmal zu David, bedankte mich bei ihm und sagte, daß ich versuchen wolle, am 4. November zum Potlatch zu kommen, der Schenkungszeremonie, bei der er das Spirit Canoe an die Stadt Lübeck übergeben will. „Darüber würde ich mich freuen“, antwortete er auf Deutsch.
Ich kann schwer in Worte fassen, was dieses Ereignis in mir ausgelöst hat. Vielleicht ist das auch gar nicht nötig. Wir leben in einer Kultur, in der alles beschrieben und erklärt wird und ich selbst habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, meine Sprache dementsprechend zu kultivieren. Aber je älter ich werde, desto mehr spüre ich, daß die wesentlichen Dinge jenseits der Worte stattfinden. Worte können immer nur Annäherungen sein.
Eins kann ich aber sagen: dieses Sitzen am Feuer und den Geschichten einer anderen Kultur zu lauschen haben in mir eine tiefe Sehnsucht nach einer alten Zeit geweckt, in der auch wir in dem Erdteil, der sich Europa nennt, noch ein Bewusstsein von der Verbundenheit mit allem Lebendigen hatten.
Auf dem Weg zum Bahnhof durch die nächtliche Stadt geschah etwas, was meine schöne Stimmung trübte. Mir kamen drei junge Männer mit Migrationshintergrund entgegen. Der Bürgersteig wäre breit genug für uns alle gewesen. Die drei rückten jedoch keinen Zentimeter zusammen, so daß ich gezwungen war auf die Straße auszuweichen. Ich war von 2015 bis 2021 in der Flüchtlingshilfe aktiv. Meine damalige Motivation war, Menschen zu helfen, die in ihrer Heimat verfolgt oder von Krieg betroffen waren. Ich musste an die vielen Deutschen denken, die während der Nazizeit Zuflucht in anderen Ländern gefunden hatten. Ich habe die Abschiebung einer gut integrierten albanischen Familie erlebt und daraufhin zusammen mit anderen Flüchtlingshelfern die uns vom Land verliehenen Ehrennadeln in einer öffentlichen Protestaktion zurückgegeben. Ich habe zwei afghanische Familien betreut, die sich sehr um Integration bemüht hatten. Mittlerweile sehe ich aber, daß der ständige Zustrom von Flüchtlingen uns schadet. Messerangriffe und sexuelle Übergriffe durch migrantische Männer haben stark zugenommen und ich weiß von zwei Lehrerinnen, daß ein hoher Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund an den Schulen zu nicht beherrschbaren Zuständen führt. Dabei sind vor allem junge Männer ein erhebliches Problem: sie kommen aus Ländern, in denen Frauen nicht als gleichwertige Menschen gesehen werden und verhalten sich hier entsprechend destruktiv. Von daher habe ich ein gewisses Verständnis für alle, die angesichts dieser Zustände die AfD wählen. Ich sag’s zum wiederholten Mal: ich hege keinerlei Sympathie für die AfD. Sie ist eine neoliberale Partei, die letztlich nur den Reichen dienen will und deren Programm im übrigen ziemlich dem der CDU der 90er Jahre entspricht. Die Faschisten sehe ich allerdings an anderer Stelle. Aber das ist ein anderes Thema, das ich hier nicht vertiefen werde.
Das tiefe Misstrauen vieler Menschen in Deutschland gegenüber Fremden hat einen sehr alten Hintergrund: vor ein paar Wochen sah ich einen Aufkleber, auf dem eine indianische Familie abgebildet war, darunter der Text „Die Indianer konnten die Einwanderung nicht stoppen – heute leben sie in Reservaten“. Das ist bittere Wahrheit. Unsere Urahnen haben dieselbe Geschichte vor sehr langer Zeit auch erlebt, als die kriegerischen Horden aus der asiatischen Steppe hier einfielen und die friedliche Urbevölkerung verdrängten. Wir finden das noch in alten Mythen, z. B. repräsentieren in der Edda die friedliebenden Wanen die Urbevölkerung und die Asen die Kriegerstämme aus Asien. Auch in den sehr alten Erzählungen um die vorchristliche Vegetationsgöttin Holle finden wir die Geschichte von Vertreibung und Unterdrückung. Wen es interessiert: Heide Göttner-Abendroth hat diese Geschichten in ihrem Buch Frau Holle – Das Feenvolk der Dolomiten versammelt. Diese Erfahrung hat sich tief in unsere Gene eingeprägt.