Stille

Hoch oben

Unseren diesjährigen Wanderurlaub verbrachten Tochter, Schwiegersohn und ich im Elbsandsteingebirge, genauer der Sächsischen Schweiz nah an der tschechischen Grenze. Ich frage mich ab und zu, woher die Idee kam, dieses Gebiet aufzusuchen. Ich kann es nicht erklären. Vielleicht wollte es uns kennenlernen oder umgekehrt?

Ich hatte ein paar Fotos gesehen und wusste, daß diese Landschaft zu Sachsen gehört und daß die Sachsen ein eigenes Völkchen sind. Das war’s dann auch schon. Und so war das, was wir erlebten, nicht eingeengt von Vorstellungen und Erwartungen. Wir kamen in eine enorm beeindruckende Landschaft aus uralten Sandsteinen, die seit Millionen von Jahren langsam erodieren und an vielen Stellen aus dem Wald ragen. Manche Felsen sind mit steilen Leitern aus Eisen, Metalltreppen mit ungeheuer vielen Stufen, in die Felsen eingelassenen Klammern zum Festhalten und Hochsteigen und Ketten zum Festhalten ausgestattet. Wir haben auch Bergsteiger gesehen, die barfuß an den Felsen hochkletterten. Es wird dem Wanderer einiges abverlangt. Hohe Leitern besteige besteige ich nicht gern und auch nur, wenn es unumgänglich ist. Dieses Mal schien es unumgänglich: es ging eine unendlich hohe Metalltreppe an einem Felsen hoch. Ich fand das schon sehr ungemütlich und stellte mir vor, daß der Abstieg moderater wäre. Aber der Abstieg ging über eine Leiter und eine Metalltreppe, und der ebene Boden lag sehr, sehr tief unter mir. Ich nahm mir danach vor, solche Sachen nicht mehr zu unternehmen. Leider ging es auch in den nächsten Tagen mit Leitern, geländerlosen Treppen und anderen Schikanen weiter.

Es war auch körperlich anstrengend. Immer wieder mussten steile Anstiege im Gelände bewältigt werden und die Abstiege waren nicht minder steil und schienen nicht aufzuhören. Aber wir sorgten auch gut für uns, picknickten an schönen Stellen und erkundeten Wege. Im Nationalpark sahen wir die verkohlten Reste des großen Waldbrandes von 2022, von denen unser Vermieter uns erzählt hatte. Wie in allen Wäldern in Deutschland gibt es hier Fichtenmonokulturen, die abgestorben sind. Die brennen als erstes. Im Eishaus, wo wir Kaffee tranken, gibt es eine Ausstellung zur Strategie der Nationalparkleitung. Man überlässt den Wald sich selbst, man setzt auf die Regenerationskraft der Natur, man ist offen für neue Erfahrungen und lässt sich von der Natur belehren. Der Borkenkäfer, der den kranken Fichten den Rest gibt, wird nicht als Feind gesehen sondern als eine Spezies, die an der großen Metamorphose beteiligt ist. Das ist eine Haltung, die mir aus dem Herzen spricht. Übrigens wachsen jetzt, zwei Jahre nach dem Brand, viele Birken zwischen den toten Fichten. Der Wald kommt zurück! Uns drei fiel auf, daß die üblichen öffentlichen Schilder nie bevormundend oder befehlend waren, wie ich das aus meinem Bundesland kenne. Es wurde auch nicht vor der Gefährlichkeit des Geländes gewarnt und mit Verboten gearbeitet. Man überließ uns die Verantwortung für uns selbst, man behandelte uns als mündige Bürger. Da haben die Sachsen uns Norddeutschen was voraus.

Das Beeindruckendste erlebte ich in einem Canyon im Nationalpark, durch den wir stundenlang auf schmalen Pfaden gingen, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Rechts hohe Felswände, links ein tief abfallender Steilhang. Die Felsen  nahm ich als uralte Wesenheiten  wahr,  Zeugen der ewigen Veränderung. Ich verstehe gut, warum vielen alten Kulturen Steine heilig waren. Sie waren vor uns da und sehr wahrscheinlich werden sie auch noch nach uns da sein. Und dann bemerkte ich die Stille: kein menschliches Geräusch außer unseren Schritten, keine Autos, keine Flugzeuge. Nur ein paar Vogelstimmen, hin und wieder ein kleiner Wind. Die Stille war fühlbar, sie war freundlich und umhüllend. Zwei Tage später machten wir einen ähnlichen Gang auf der anderen Seite des Canyons und wieder war da diese enorme Stille.

Wir kamen auch an Stellen, wo sich die Besucher förmlich stapelten. Viele hatten Wander-Apps und hielten sich die ganze Zeit ihre Smartphones vor die Nase. So möchte ich nicht wandern. Wir hatten eine Karte (die so oft benutzt wurde, daß sie jetzt nur noch aus Einzelteilen besteht) und einen Wanderführer dabei und ganz selten nahm Maatin GPS in Anspruch. Ich überließ den beiden die Karte und entschied mich intuitiv für einen Weg, wenn wir verschiedene Möglichkeiten hatten. Meistens waren wir uns einig. Einmal machten wir einen langen Umweg, der sich als Hürdenlauf herausstellte, weil lauter umgekippte Fichten auf dem Weg lagen. Der richtige Weg war durch eine Zisterne verdeckt worden, die man nach dem Waldbrand eingerichtet hatte.

Zisterne im Wald