Ameisen

Ostern waren meine Tochter und mein Schwiegersohn bei mir. Bei nicht besonders freundlichem Wetter erkundeten wir ein Stück Landschaft in der Nähe, entdeckten unbekannte Wege und einen großen verwunschenen Teich. Lerchen sangen über den Feldern, ein Seeadlerpaar saß ganz nah in einem Baum und wurde von einem Kolkraben geärgert. Kraniche grasten auf einem Acker und ein Bach floss munter am Waldrand entlang. Inmitten all der Zerstörung gibt es immer noch viel Lebendiges. Ich fühle das auch in meinem Körper und verbringe jetzt viel Zeit im Garten, wo ich die Beete durchhacke, Kompost siebe und verteile und Samen in die Erde lege.

Abend sahen wir den Film Ein Mädchen aus dem Norden. Er spielt in der ersten Hälfte des Jahrhunderts und erzählt die Geschichte eines Sami-Mädchens, das seine Stammeszugehörigkeit und Tradition verlässt, um zu einer „richtigen“ Schwedin zu werden. Der Film spricht größtenteils durch seine Bilder und ist eindrucksvoll und tragisch zugleich. Im Grunde erzählt er die universelle Geschichte von den Einwanderern, die den Indigenen ihre Intelligenz absprechen und ihre Lebensweise entwerten. Sie hat sich auf allen Kontinenten ereignet und immer waren die Täter Europäer.

Einige Tage später fuhren wir nach Bonn, um meinem Sohn und seiner Freundin einen Besuch in ihrem neuen Heim abzustatten. Das liegt zwar in der Stadt, aber mit einem Wald in Reichweite, den wir auch gleich erkundeten. Vielleicht gibt es Menschen, denen die freie Landschaft und das Meer überlebenswichtig ist – für mich ist es der Wald. Seit ich mich erinnern kann, bin ich ein Waldmensch. Ansonsten genoss ich das Familienleben, auch mit der erweiterten Familie, bestehend aus dem jüngeren Bruder meiner Kinder, dem Sohn einer meiner Nachfolgerinnen, der mit seiner Frau und den beiden Kindern vorbeikam. M. wurde dann gleich zum Fußballspielen verpflichtet.

 

Vor einigen Tagen fand ich Ameisen im Flur. Sie hatten den Weg durch eine Ritze in der Tür gefunden und saßen in einem dicken Pulk neben meinen Wanderschuhen. „Ich will euch hier nicht haben“, sagte ich zu ihnen, fegte sie auf ein Kehrblech und setzte sie raus. Dann träufelte ich Essig vor die Tür und in die Ritze zwischen Hauswand und oberster Stufe. Das soll abwehrend wirken. Eine Weile schien das zu helfen, dann kamen doch wieder Ameisen herein, wenn auch nur vereinzelt. Ich machte mir Sorgen, weil in der Duschkabine ein Eimer mit einem eingehängten Doppelsieb stand, durch das Honig aus zerkleinerten Waben tropfte. Die Waben stammten vom toten Bienenvolk, dessen Kasten ich kürzlich leergeräumt hatte. Es war nicht mehr viel Honig in den Waben – drei kleine Gläser, wie sich am Ende herausstellte – und den wollte ich nicht mit den Ameisen teilen. So gemeine Sachen wie Puderzucker mit Natron setze ich nicht ein; es steht mir nicht zu, diese kleinen Tiere zu töten.

Dann fiel mir etwas ein: vor längerer Zeit verbrachte ich mit I. zwei Wochen auf Skopelos in einem kleinen Haus in den Bergen. Gleich am ersten Tag fanden wir eine Ameisenstraße, die sich ihren Weg unter der Küchentür hindurch in die Spüle gebahnt hatte und dort unser benutztes Geschirr sauberleckte. Das gefiel uns beiden nicht. Also räumten wir von da an unser Geschirr, das wir einmal am Tag abspülten, in ein Außenwaschbecken auf der Terrasse. Die Ameisen verstanden sofort: sie ließen die Küche in Ruhe und machten sich über das Geschirr draußen her. Wir waren zufrieden und ich vermute die Ameisen auch.

Ich stellte also ein Tellerchen mit etwas Zucker neben die Eingangsstufen und wenig später waren die Ameisen dabei, die Zuckerkristalle abzutransportieren. Seitdem hat sich keine einzige mehr im Haus gezeigt. Es ist doch immer schön, wenn alle Beteiligten zufrieden sind.

 

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