Zeit

Himmelfahrt fuhr ich nach Flensburg (ja, für mich heißt das immer noch Himmelfahrt, auch wenn ich keine Christin bin und ich bin froh, daß mir dieses Jahr die Besoffenen vorm Haus dank Corona erspart geblieben sind). Am Freitag gingen wir im Café K. frühstücken. Alles etwas umständlich: das Café musste mit Maske betreten werden, man bekam einen frisch desinfizierten Tisch zugewiesen und musste dann per Handy den Namen an die Telefonnummer des Cafés schicken. Schon klar: sollte ein Covid19-Fall auftreten, können sich gleich alle Besucher in Quarantäne begeben. Das Frühstück war gut, aber solche Besuche werde ich nicht oft machen. Dieses Registrieren ist ganz offensichtlich die Ersatzlösung für eine Handy-App, deren Nutzung angeblich freiwillig sein soll. Das ist so wie mit der Masernimpfung: offiziell ist sie nicht Pflicht, aber Eltern mit ungeimpften Kindern bekommen keinen Kita- und Schulplatz. Also ist es de facto ein Impfzwang.

Die Fußgängerzone war so voll wie vor dem Lockdown. Vor den Geschäften waren teilweise Schlangen. Einige drängelten sich vor, was Ärger gab. Die Freundlichkeit der Lockdownzeit ist wieder den gewohnten Umgangsformen gewichen. Schade! Wir kamen an einer Kneipe vorbei und konnten durch die offene Tür direkt auf den Tresen sehen: da saßen Männer Schulter an Schulter und tranken Bier. Vielleicht dachten sie, daß Alkohol Viren tötet. Ob die sich wohl auch registrieren mussten? Im Bioladen kaufte ich mir zwei neue Gesichtsmasken ohne Draht für die Nase. Die finde ich angenehmer. Allerdings musste ich sie zu Hause noch passend nähen.

Gestern fiel der zweite Schwarm. Das kam nicht überraschend: seit einigen Tagen drängelten die Bienen sich schon vorm Flugloch. Der Schwarm kreiste sehr lange über dem Garten und ließ sich schließlich in einem Ahorn außerhalb des Grundstücks nieder. Er hing so hoch, daß ich ihn nicht kriegen konnte. Ich wünschte den Bienen, daß sie ein schönes neues Zuhause finden. Aber es regte sich ein ganz kleines bisschen schlechtes Gewissen ihnen gegenüber. Ich weiß eigentlich gar nicht warum. Zwar habe ich im Imkerkurs noch gelernt, daß die Honigbienen ohne den Menschen und seine Eingriffe nicht überleben könnten, aber mittlerweile weiß ich, daß das nicht stimmt. Im Gegenteil: die wenigen noch von Menschen unbehelligten Bienenvölker haben nach den Forschungen von Torben Schiffer und Thomas Seeley wesentlich bessere Überlebenschancen als die von Imker*innen betreuten. Ich glaube, das ist auch so ein Merkmal unserer Kultur, daß man sich immer für alles Mögliche verantwortlich fühlt. Heute Nachmittag hing die Schwarmtraube nicht mehr im Ahorn. Sie haben also recht schnell was gefunden. Wie schön wäre es, wenn ich ihnen bei einem meiner Waldspaziergänge irgendwann mal in einem hohlen Baum begegnete.

Seit ich nicht mehr arbeiten muss, habe ich Zeit. Das hatte ich das letzte Mal als Kind, bevor ich zur Schule kam. Seit ich Zeit habe, wird mir bewusst, wie ich mich in den letzten mindestens 50 Jahren in ein sehr enges Zeitkorsett gequetscht habe, um all das zu schaffen, was gemacht werden musste und was ich gern machen wollte. Das ist natürlich ein typisches Merkmal unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems und es wird moralisch untermauert durch Sprüche wie „Wer rastet, der rostet“ und „Müßiggang ist aller Laster Anfang“. Sehr bezeichnend auch der Satz einer ehemaligen Kollegin „Arbeit adelt“ (als ob ausgerechnet Adlige arbeiten müssten). Dadurch, daß ich freie Zeit habe und nicht ständig an den nächsten Termin und die nächste Pflicht denken muss, kann ich großzügig mit meiner Aufmerksamkeit umgehen, für die Pflanzen, die Bienen, die Katze, andere Menschen. Ich nehme sie alle auf neue Weise wahr, irgendwie tiefer. Und es scheint so, als könne ich sie besser verstehen.

Ich glaube, Angstschüren und Zeitknappheit sind wesentliche Mittel, Völker gehorsam zu machen. Das Angstschüren hat ja seit dem Beginn der Coronapandemie prima geklappt und die Medien beteiligen sich eifrig daran. Und die Zeitknappheit ist so alt wie der Kapitalismus und hält diesen aufrecht. In Zeiten des Neoliberalismus ist das auf die Spitze getrieben: etliche Menschen müssen Zweitjobs machen, um ihre Mieten zahlen zu können.

Ein Mensch mit viel freier Zeit kann auch viel besser spüren, was er/sie wirklich braucht und hat vielleicht nicht soviele Ersatzbefriedigungen nötig. Zeit öffnet den Raum für die wahren Bedürfnisse. Und wer nichts tut, kann auch keinen Schaden anrichten. So gesehen ist Müßiggang ein subversiver Akt.

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