Irgendwie haben die Raunächte eine andere Zeitqualität als alle anderen Tage des Jahres. Ich habe keine Beschreibung dafür, aber ich spüre es jedes Jahr neu. Alles, was meinen routinierten Alltag ausmacht, ist außer Kraft gesetzt und ich genieße das. Am Donnerstag wollte ich mein neues Fahrrad umtauschen (es fährt sich extrem mühsam bergauf, was ich leider bei der Probefahrt nicht gemerkt habe) und stand vor einem verschlossenen Laden: Betriebsferien. Nicht nur ich schätze also die Ruhe und das relative Untätigkeit zwischen den Jahren.
Aus Westfalen kenne ich den katholischen Brauch des Sternsingens. Als drei Könige verkleidete Kinder klingeln an den Haustüren und singen ein Lied. Wenn man ihnen Geld in ihre Büchse wirft, malen sie mit Kreide die drei Buchstaben C + M + B an die Wand; mittlerweile gibt es stattdessen vorgefertigte Klebeschilder. Die Buchstaben stehen für „Christus mansionem benedicat“, übersetzt „Chistus segne dieses Haus“. Einen Segen kann ich auch gebrauchen, deshalb habe ich diese Buchstaben für mich umgewidmet in K(atharina), M(argarete), B(arbara). In katholischen Gegenden sind diese drei Gestalten als Nothelferinnen bekannt. Es gibt zu ihnen auch einen Spruch: „Margarete mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl – das sind die drei heiligen Madel“. Man kann sie in etlichen Kirchen sehen. Sehr schön finde ich ihre Skulpturen im Straßburger Münster. Der Wurm ist eigentlich ein Drache. Der war früher Symboltier für die alten Erdkräfte und wurde später dämonisiert und von Georg aufgespießt. Barbaras Turm weist darauf hin, daß sie vor Blitzschlag schützt. Zum Turm fällt mir aber auch die Veleda ein, eine Seherin aus dem Stamm der Brukterer oder Batavier, die für ihre genauen Vorhersagen bekannt war und auf einem Turm gewohnt haben soll. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Katharina hält das achtspeichige Rad als Symbol für den Jahreskreis mit seinen vier Sonnen- und vier Mondfesten. Diese drei Gestalten haben ältere Vorbilder, die im süddeutschen und österreichischen Raum als die drei Bethen bekannt waren. Ein schönes Wandbild von ihnen exisitiert in der Kirche von Klerant und auch im Wormser Dom sind sie zu finden. Es handelt sich um sehr alte Kräfte, die immer in dreifacher Gestalt auftauchen und so an die drei Nornen, die drei Moiren und die drei Parzen erinnern. Und wie alle alten Kräfte, die von den einfachen Leuten um Hilfe und Unterstützung gebeten wurden, hat die Kirche ihnen eine Märtyrerinnengeschichte bebastelt und sie sich somit einverleibt.
Neben meiner Haustür stehen jetzt also wie jedes Jahr die Namen dieser drei heiligen Frauen und das X dazwischen ist ein altes Symbol für die Gebärhaltung (aus einer Zeit, als Frauen noch nicht im Liegen geboren haben), steht aber auch für die samische Muttergöttin Akka (Selma Lagerlöf hat die Leitgans in der schönen Geschichte von Nils Holgerson nach ihr benannt).
Der Weihnachtsschmuck liegt wieder gut verstaut im Schrank, die Wohnung ist geputzt und die alte Ordnung ist wieder eingekehrt. Alles fählt sich gut und richtig an und mein Fahrrad konnte ich heute endlich umtauschen.
Am Freitag, dem Perchtentag, den ich lieber Holles Tag nenne, weil die Holle wie ich im Norden zu Hause ist, fuhren W. und ich nach Nordwestmecklenburg. Das fängt direkt hinter Lübeck an, ist also recht schnell zu erreichen. Mit der Fähre ging es zum Priwall und dann durch die regengraue Landschaft. Grau waren auch viele Häuser in den Ortschaften, die wir durchquerten. Sie erinnerten mich daran, daß wir uns in ehemaligem DDR-Gebiet befanden. W. machte mich mit dem Hof Hoher Schönberg bekannt, einem urigen Bauernhof, der biologisch-dynamisch bewirtschaftet wird. Von dort kommt sehr gutes frisches Leinöl aus eigenem Anbau und eigener Pressung. Es ist übrigens nicht empfehlenswert Leinöl im Laden zu kaufen, auch nicht im Bioladen. Ich habe beobachtet, daß es fast immer falsch gelagert wird, nämlich ungekühlt und dem Licht ausgesetzt. Daher schmeckt Leinöl aus dem Geschäft eigentlich immer fischig und ist ranzig. Wer also richtig gutes Leinöl haben will, sollte es bestellen, z. B. beim Hof Hoher Schönberg. W. bestellt immer für mehrere Leute, was sich lohnt, weil bei einer größeren Menge auch keine Portokosten anfallen. Der Hof hat einen schönen Laden mit Fleisch- und Wurstwaren von eigenen Tieren, selbstgebackenem Brot und Kuchen, Milch und Sahne von eigenen Kühen und vielen schönen Sachen. Ich kaufte Roggen für mein Brot, was dort im Vergleich zu meiner bisherigen Quelle extrem preisgünstig ist und vom eigenen Feld stammt.
An scharrenden Hühnern vorbei ging ich zum Kompostklo im Garten (ich hätte auch gern eins) und dann klarte der Himmel auf und wir fuhren zum Meer und machten einen Strandspaziergang.