Heiliger Raum

Neulich, als ich an der alten Buche im Wald saß und in die Landschaft schaute, spürte ich ganz deutlich, daß ich mich in einem heiligen Raum befinde. Als Kind war ich sehr gläubige Christin und für mich waren damals Kirchen, vor allem gotische, heilige Räume. Das ist lange vorbei. Ich gehe ab und zu noch in Kirchen und schaue mich in ihnen um. Sobald ich dann den blutenden gefolterten Mann am Kreuz sehe, überkommt mich heftigster Ekel vor dieser Religion, die das Leiden zum Programm gemacht hat. Nebenbei: ich bin sicher, daß der Zimmermann aus Nazareth in seinem Grabe rotiert, wegen dem was die Kirchen aus seinen Lehren gemacht haben.

Der heilige Raum, den ich an der alten Buche gefunden habe, existiert überall da, wo das Lebendige noch zu spüren ist. Vor einiger Zeit erfuhr ich von einer Frau, die für eine Stiftung arbeitet, die Wald aufkauft und schützt, daß kleine intakte Waldstücke, die inmitten von verwüsteten oder mindestens gestörten Wäldern (z. B. nach dem verheerenden Einsatz von sogenannten Harvestern), Lebewesen ein Refugium bieten und von dort aus heilenden Einfluss haben. Sie sind heilige Räume – heile Räume. Auch wenn wir in einer schwer beschädigten Welt leben, gibt es diese heiligen/heilen Räume noch und solange ich sie immer wieder neu entdecke, habe ich Freude am Leben.

Ich bin sicher, daß dieser heilige/heile Raum nicht notwendigerweise ein äußerer ist und daß jeder Mensch ihn in sich trägt. Vielleicht spüren wir ihn nur selten, vielleicht können wir ihn nicht willentlich erreichen. Manchmal mag er sich zeigen, manchmal steigt eine Ahnung von ihm in uns auf. Es ist der Ort, von dem aus Heilung stattfindet. Heilung kann nicht gemacht werden, Heilung geschieht. Deshalb finde ich es vermessen, wenn eine Person sich Heiler/Heilerin nennt. Wenn ich mich beim Gemüseschneiden in den Finger schneide, dauert es nicht lange, bis die Wunde sich geschlossen hat und nach kurzer Zeit ist allenfalls eine Narbe zu sehen. Und wie ist das geschehen? Etwas in meiner Körperin hat es bewirkt, ohne mein Zutun. Vielleicht habe ich ein Pflaster auf den blutenden Schnitt geklebt, vielleicht habe ich die Wunde vorher mit Tinktur aus Ringelblumen betupft. Aber die eigentliche Heilung geschieht durch irgendeine Kraft, die ich weder verstehen noch beherrschen kann. Da kann eine doch nur staunen.

Und was ist mit denen, die sterbenskrank sind? Da fällt mir wieder mal ein Satz von Ute Schiran ein: „Heilung kann auch Sterben bedeuten.“ Das verträgt sich natürlich nicht mit unserem modernen Weltbild: heutzutage muss Sterben um jeden Preis verhindert werden. Obwohl: das stimmt nicht ganz. Denn Sterben wird täglich billigend in Kauf genommen: das Sterben durch Verkehrsunfälle, das Sterben durch Kriege, das langsame Sterben durch Ackergifte, die sich mittlerweile überall befinden, das Sterben durch Verhungern in den Ländern des globalen Südens, das durch die Wirtschaftsweise des globalen Nordens verursacht wird, das Sterben von Geflüchteten im Mittelmeer, das Sterben unzähliger Arten durch unseren Lebensstil. Und natürlich das ganz große Sterben durch den menschengemachten Klimawandel.

Die Regierenden wollen das Coronavirus unter Kontrolle bringen. Sie versuchen es mittlerweile seit mehr als einem halben Jahr. Jetzt gibt es ein Partygängerbashing, Sperrstunden werden eingeführt (und wieder von Gerichten gekippt wie kürzlich in Bonn). Man nimmt Menschen seit März nach und nach immer mehr von dem, was zum Menschsein gehört: den Körperkontakt, die Verständigung über Mimik, das Feiern, die Möglichkeit sich frei zu bewegen. Eine Umarmung ist mittlerweile ein subversiver Akt. Es ist doch klar, daß dieses ganz und gar nicht artgerechte Leben, das uns seit sieben Monaten aufgezwungen wird und alle Abstands- und Hygiene-Regeln immer weniger akzeptiert werden, weil es uns als Herdentieren nicht entspricht. Das Virus wird unterdessen weiterziehen, weiter mutieren und vielleicht, im besten Falle, wird man irgendwann einsehen, daß es mit oder ohne Anti-Corona-Maßnahmen seine ganz eigene Agenda verfolgt und sich einen Scheiß um die ganzen Kontrollversuche schert.

Ein Kommentar zu „Heiliger Raum

  1. Nocb einmal einen lieben Gruss, Marie-Luise! Dein Beitrag hat mich an das neue Buch von Wolf-Dieter Stohrl über heilige Bäume erinnert. Vielleicht eine schöne Lektüre für die dunkle Zeit! Sei auf’s liebste umarmt! Astrid

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