Versteinerung

Gestern bekam ich eine Einladung zu einem Vortrag über die Soziale Dreigliederung. Das ist ein Konzept, dessen Urheber Rudolf Steiner war. In den C-Jahren hat es Aufwind erlebt als Alternative zum bestehenden Gesellschafts- und Herrschaftssystem. Der Leitsatz der Dreigliederungsbewegung ist der Slogan der Französischen Revolution: Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Ich störe mich an dem Begriff Brüderlichkeit, weil es Frauen ausschließt. Da es im Deutschen den Begriff Geschwisterlichkeit gibt, könnte man meines Erachtens doch den benutzen. Das habe ich in der Vergangenheit mehrmals vorgeschlagen und bin damit jedes Mal gescheitert.

Bemerkenswert sind dazu die Begründungen: die erste kam von einer Frau, die auf meinen Einwand überhaupt nicht einging, dafür aber einen ermüdend langen Text zu ihren schlechten Erfahrungen mit Radikalfeministinnen schrieb. Offensichtlich hat sie mich in dieser Ecke verortet. Mein zweiter Einwand gegenüber einer Internetseite, die sich mit menschlichem Wirtschaften nach dem Dreigliederungskonzept befasst, wurde überhaupt nicht beantwortet. Die dritte Antwort kam von einem in Deutschland lebenden Franzosen, der mich darüber aufklärte, daß der ursprüngliche Leitsatz der Französischen Revolution Freiheit – Gleichheit – Grundbesitz geheißen habe. Er nahm keine Stellung zu meinem Einwand und forderte mich auf, bei den Dreigliederern mitzumachen, weil man Frauenmangel habe. Aha! Mittlerweile habe ich allerdings erfahren, daß das wohl nicht der Fall sein soll.

Die dritte Antwort kam von dem Vortragsredner, auf dessen Einladung ich reagiert hatte. Er erklärte, daß er bei dem Begriff Brüderlichkeit bleiben werde und fügte als Begründung u. a. ein Zitat von Rudolf Steiner an: „Denn von der menschlichen Brüderlichkeit … können wir nur dann sprechen, wenn wir den anderen Menschen in uns tragen wie uns selber.“

Ich habe jetzt beschlossen, diesem Thema keine Energie mehr zu geben. Es scheint da ein unüberbrückbares Verständnisproblem zu geben. Ich habe allerdings noch einen anderen Verdacht, der mir schon öfter in Gesprächen mit überzeugten Anthroposophen gekommen ist: Was Rudolf Steiner gesagt hat, ist ehernes Gesetz. Ich habe Bücher von Rudolf Steiner gelesen; ich fand einiges gut, einiges war für  mich schlicht unverständlich. Ich habe gute Erfahrungen mit der anthroposophischen Medizin gemacht. Aber ich habe auch bei einigen Anthroposophen eine große Rigidität erlebt. Rudolf Steiner hat vor 100 Jahren gelebt. Seitdem ist viel Wasser den Rhein entlang geflossen. Es gibt da meines Erachtens einige Anachronismen, die man mal bearbeiten könnte.

Eine Bekannte sprach vor kurzem mir gegenüber von einer „Versteinerung“, die sie in der Anthroposophie ausgemacht habe. Der Begriff gefällt mir gut und ich werde ihn in meinen Wortschatz übernehmen.


		

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