Für mich hat gestern ein neues Jahr begonnen: vor 71 Jahren wurde ich geboren. Manchmal finde ich es unglaublich, daß ich so lange durchgehalten habe. Und was habe ich alles in dieser langen Zeit erlebt. Ich habe nicht den Ehrgeiz unsterblich zu sein, aber die nächsten Jahre möchte ich gern noch erleben und so gut wie möglich genießen. Ich kann von mir sagen, daß ich ein wenig gelassener geworden bin, aber altersmilde werde ich wohl nicht mehr werden.
Ich hatte nichts geplant und auch nichts für eventuelle Besucher vorbereitet. Aber ein Kuchen musste schon sein. Das ist einfach Tradition. Geholfen hat mir der fünfjährige Nachbarjunge, der ab und zu, oft auch mit seiner etwas älteren Schwester, vorbeikommt. Während ich den Teig rührte, hat er Eier aufgeschlagen und nach und nach Mehl in die Rührschüssel geschaufelt. Dabei haben wir uns sehr angeregt unterhalten. Ich war fasziniert über sein phänomenales Gedächtnis. Wann verschwindet das eigentlich? Von schriftlosen Völkern sagt man, daß die Menschen bis ins hohe Alter so ein Gedächtnis haben. Lesen und Schreiben haben wohl keine günstigen Auswirkungen auf unsere Gedächtnisleistung. Ich denke aber, daß auch das zunehmende Vollgemülltwerden mit Informationen keine gedächtnisfördernde Sache ist. Man stumpft einfach ab bei der Flut an irrelevanten Informationen.
Gestern morgen bekam ich den ersten Geburtstagsanruf und so ging es bis zum Nachmittag weiter. Gegen elf Uhr schaffte ich es dann, endlich zu frühstücken. Ich beklage mich nicht; ich war eher verwundert über die Menge an Anrufen und habe mich natürlich sehr gefreut. Abends kam dann noch die liebe B. als Überraschungsgast und wir machten es uns am warmen Ofen gemütlich.
Vorgestern holte ich meine Nähmaschine raus, die ich seit der letzten Reparatur im Sommer nicht mehr benutzt hatte. Sie nähte ein paar Minuten einwandfrei, dann verweigerte sie den Zickzackstich. Meine technischen Fertigkeiten reichten nicht aus, um den Fehler zu beheben. Schlecht gelaunt beschloss ich, am nächsten Tag, meinem Geburtstag, nach Kiel zu meinem bewährten Nähmaschinenreparateur zu fahren. In der Nacht wachte ich auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil ich ständig an die Nähmaschine denken musste. Sie ist fünfzig Jahre alt, erkennbar am damals topmodischen 70er-Jahre Orange, und war ein Geschenk meiner Eltern zur Geburt meines Sohnes. So solide Maschinen gibt es heute nicht mehr. Meine Erfahrung mit elektrischen Geräten ist, daß sie nach spätestens 15 Jahren entsorgt werden müssen, etliche kommen noch nicht mal auf zehn Jahre. Ich wollte mich also von dieser Maschine ungern trennen. Andererseits hatte ich sie in den letzten Jahren einige Male zur Reparatur und es stellte sich die Frage, ob sich Kosten und Aufwand noch lohnen. Im Dunkel meines Schlafzimmers kam ich irgendwann zu der Entscheidung, daß ich mir eine neue Maschine leisten werde. Es ist eher unwahrscheinlich, daß sie mich überleben wird, aber einige Jahre möchte ich gern noch nähen. Gelernt habe ich übrigens auf einer Nähmaschine, die mit den Füßen betrieben wurde, nicht mit Strom. Das geht genauso einfach wie bei einer elektrischen Maschine. Nachteil ist der Platzbedarf.
Hexenring in meinem Garten
Zur Zeit lese ich das neueste Buch von Tyson Junkaportas, einem australischen Aboriginal, dessen erstes Buch Sandtalk ich vermutlich schon erwähnt habe. Es ist bis jetzt nur auf Englisch verfügbar und hat den Titel „Right Story, Wrong Story“. Ich bin wieder sehr angetan. Wie in seinem ersten Buch nutzt der Autor eine Gesprächsmethode seiner Vorfahren, das Yarnen. Ich vermute, daß sich dieses Wort vom englischen yarn (Garn) ableitet. Damit erinnert es mich an die deutsche Ausdrucksweise „Geschichten spinnen“ und ein Wort wie „Gesprächsfaden“, bei denen es ja auch um Garn geht. Diese Gesprächsmethode hat es sicher auch bei uns mal gegeben. Im Zeitalter der cancel culture, des betreuten Denkens und des woken Sprachfaschismus verschwindet sie mehr und mehr. Yarnen bedeutet, daß Menschen zusammen sitzen (bei Yunkaportas wohl eher virtuell, da er mit Indigenen aus aller Welt yarnt) und jeder, der etwas zu einem Thema zu sagen hat, spricht es aus. Die anderen hören zu. Jede Ansicht ist gleich gültig, keine wird als falsch abklassifiziert. Es ist einfach ein Zusammentragen von verschiedenen Sichtweisen. Ach, wie sehr wünsche ich mir das auch für unsere Kultur!
Liebste Marie-Luise!
Dieses Jahr hinke ich ein bisschen hinterher, aber immerhin hat irgendwo in meinem Hinterkopf ein unsichtbares Glöckchen geklingelt und mich auf deine Seite geführt. Et voilá!
Darum jetzt hier von mir auch von Herzen kommende Grüsse für deinen Geburtstag! Mensch – Frau: 71 Jahre!!! Ich sehe uns noch wie gestern – und das ist jetzt auch schon fast 20 Jahre her! Und jetzt wirst du eine dieser magischen Crones!
Ich wünsche dir von Herzen, das es eine gute Reise wird, voller Freude und Schönheit. Immer noch schön, dass es dich gibt in der Welt! Eine dicke, warme Umarmung! Deine Astrid
Liebste Astrid, danke für deine Wünsche. Ich freue mich immer noch und wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage, daß wir uns mal kennengelernt haben.
Allerliebste Grüße ins ferne Portugal.