Ich lese gerade wieder Im Bann der sinnlichen Natur von David Abram. Es ist schon 1996 rausgekommen, aber erst 2012 ins Deutsche übersetzt worden. Der Autor ist Kulturökologe und Philosoph und hat bei etlichen indigenen Völkern gelebt; seine Berichte sind sehr authentisch. Seine teilweise recht langen Texte über diverse alte und neue Philosophen und deren Lehren finde ich allerdings sehr abstrakt und schwer zu lesen. Ich überfliege sie daher und finde dabei immer wieder ziemlich erfreuliche Passagen. So z. B. sein Kapitel über das Element Luft. Luft ist das einzige Element, das wir nicht sehen können. Nur seine Auswirkungen, wenn etwa Wind die Blätter von Bäumen bewegt, die Luft fühlbar durch unsere Nasenlöcher in den Körper gelangt oder über unsere Haut streicht, können wir wahrnehmen. Luft ist daher auch das geheimnisvollste der Elemente. Es verbindet uns als Atem mit allen anderen atmenden Wesen. Wir atmen Luft ein, unser Körper nimmt sich den darin enthaltenen Sauerstoff; wir atmen Luft aus und die grünen Pflanzen atmen das darin enthaltene Kohlendioxid ein. Ein ewiger Kreislauf. Tiefes Ein- und Ausatmen erfüllt uns mit Lebensenergie. Auch die Erde atmet. Eigentlich fällt mir nichts ein, was nicht atmet. Die Luft, die ich einatme, ist von anderen Wesen ausgeatmet worden und umgekehrt. Luft umgibt uns und durchströmt uns.
Die große Rolle, ja Heiligkeit der Luft, des Atems ist in vielen alten Kulturen bekannt gewesen. In der Genesis ist vom Geist Gottes, der über dem Wasser schwebt, die Rede. Dem liegt das hebräische Wort ruach zu Grunde. Ruach ist weiblich und heißt Atem, Hauch. Die Lakota in Nordamerika nennen es Taku Skanskan, manchmal nur Skan genannt. Das ist eine geistige Wesenheit, die allem Leben, Bewegung und Bewusstsein einhaucht. Die englische Bezeichnung dafür ist Great Spirit (Großer Geist). Im pelasgischen Schöpfungsmythos erzeugt die Urgöttin Eurynome tanzend Boreas, den Nordwind, mit dem sie sich paart und alle Wesen hervorbringt. Viele Winde haben Namen und werden auch heute noch in irgendeiner Weise als lebendige Wesenheiten mit eigenem Willen gesehen: der Föhn in der Alpenregion, der Mistral und Scirocco in der Provence, der Meltemi in der Ägäis. Letzteren habe ich 1992 leibhaftig erlebt, als mein damaliger Mann und ich auf der Fähre im Hafen von Naxos festsaßen, weil der Sturm über 30 Stunden die Abfahrt verhinderte und wir deshalb unseren Flug von Athen nach Düsseldorf verpassten.
Sturm hat mich in meiner Kindheit schon fasziniert und ich gehe auch heute noch gern bei Sturm ins Freie, höre dem Brausen und Rauschen zu und lasse mich durchwehen. Ich sehe gern Greifvögeln, Krähen und Raben zu, wenn sie mit sichtbarem Genuss im Wind tanzen. Vor einigen Jahren war ich mit einer Freundin bei einem heftigen Orkan an der Kieler Förde. Wir konnten uns buchstäblich in den Wind legen. Das sind Erlebnisse, die mir ein unbeschreibliches Hochgefühl hervorrufen.
Hier stürmt es seit drei Tagen heftig. Die Holle, in Süddeutschland die Percht, tobt übers Land und hinterlässt ihre Spuren. Ich habe es aufgegeben, meine Regentonne immer wieder aufzurichten und mit Steinen zu beschweren. Ich warte auf ruhigere Zeiten und genieße derweil das Brausen und Toben.
Ute Schiran hat uns mit den vier Windinnen bekannt gemacht und mit ihnen arbeiten lassen. Ich habe dadurch eine sehr persönliche Beziehung besonders zur Windin aus dem Norden gemacht, der Ute den Namen Louhi, nach der Zauberin aus der finnischen Kalevala, gegeben hat. Sie hat mir den Impuls gegeben meine zweite Ehe zu beenden, als deren Zeit abgelaufen war.
Skan heißt auch die Therapieform, die vor bald 40 Jahren mein Leben radikal verändert hat. Das ist eine Körpertherapie, die auf Wilhelm Reich zurückgeht und sehr stark mit forciertem Atem arbeitet, wobei die Ausatmung durch den geöffneten Mund und mit einem A-Laut geschieht. Ich habe damals Monate gebraucht, bis ich mich darauf einlassen konnte. Zu groß war meine Angst vor dem, was passieren würde, denn ich spürte schon, daß diese Art zu atmen ganz tief in mir begrabene Gefühle zum Vorschein bringen würde. Letztendlich war das dann die Befreiung aus meinem Körpergefängnis. Ich habe damals erlebt, daß ich in Wirklichkeit ein wildes, freies Tier bin. Meines Erachtens kann keine Therapie, die nur mit Gesprächen und kognitiven Mitteln arbeitet, so tief und nachhaltig wirken wie das Arbeiten mit Atem und Körper. Ich habe danach noch andere Körpertherapien kennengelernt, auch eine Ausbildung in Core-Energetik gemacht, die sich auch auf Wilhelm Reich beruft. Aber keine ist so wirksam gewesen.
Während der C-Zeit wurden wir gezwungen Masken zu tragen, die die Atmung behindern. Ich habe das ganz heftig erlebt, als ich mit dem Fahrrad zur Poststelle fuhr und beim Betreten des Gebäudes die Maske aufsetzte. Ich war noch außer Atem und spürte plötzlich unangenehme Luftnot. Ich weiß nicht, ob eine Absicht hinter dieser Maßnahme, die uns angeblich vor einem Virus schützen sollte (was sie nachweislich nicht tat) war, auch unsere Gefühle zu blockieren. Aber bekanntermaßen kann man mit zurückgehaltenem Atem Gefühle wie Wut, Trauer usw. wirkungsvoll dämpfen. Wir machen das selbst oft unbewusst, weil wir in unserer Kultur lernen, daß der Ausdruck starker Gefühle unerwünscht ist. Wenn wir unsere Atmung befreien, befreien wir uns selbst.